Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
für den vergangenen Monat. Natürlich dieselbe Summe wie immer, dabei hätte es doppelt so viel sein müssen angesichts der Überstunden, die sie abgerissen hatte.
Ihre Wohnung war zwar warm, fühlte sich aber verlassen und unbewohnt an. Nele verbrachte nur noch wenig Zeit allein darin. Meist war Anou entweder schon da, oder sie kamen gemeinsam nach Hause. Allerdings hatte Neles Lebensgefährtin bis Samstagabend Bereitschaft, weswegen sie auch nicht zu dem Seminar mitgekommen war.
Nachdem Karel Murach damals in Anouschkas Wohnung eingebrochen war und sie daraus entführt hatte, konnte Anou dort nicht mehr allein sein. Sie war für zwei Monate ganz bei Nele eingezogen, bis sie eine andere Wohnung gefunden und sich dort eingerichtet hatte. Weiterhin zusammenzuleben, vielleicht sogar für immer, das hatte nie im Raum gestanden, und jetzt, während Nele in die ihr so leer scheinende Wohnung starrte, fragte sie sich, warum eigentlich nicht. Wer von ihnen beiden war noch nicht so weit?
Sie schob die Frage fort, ging in die Küche, nahm eine Flasche Mineralwasser aus der Kiste, lehnte sich gegen die Arbeitsfläche und trank die Ein-Liter-Flasche in kurzer Zeit beinahe ganz leer. Das musste an der großen Menge Kaffee liegen, die sie über den Nachmittag verteilt und auch noch während des Seminars getrunken hatte. Von Kaffee bekam sie immer Durst, richtig wach zu halten schien er sie aber schon lange nicht mehr.
Sie fühlte sich leer und ausgelaugt, sehnte sich nach einer heißen Dusche und wollte dann nur noch ins Bett. Sie ging ins Bad und zog sich aus. Ihr Spiegelbild war an diesem Abend kein Kompliment. Die blauen Augen wirkten müde, die Lachfalten in den Augenwinkeln schienen besonders tief zu sein, außerdem wirkte ihre Haut insgesamt grau und schlaff.
Sie brauchte Sonne, unbedingt!
Schnell wandte sie sich von dem Spiegel ab und trat unter die Dusche. Während das heiße Wasser über ihren Körper rann, dachte Nele darüber nach, ob es richtig war, was sie vorhin getan hatte. Jetzt konnte sie nicht mehr zurück und musste sich morgen früh mit Dr. Sternberg treffen. Hätte sie vorher mit Anou darüber reden müssen? Eigentlich brauchte sie sich keine Vorwürfe zu machen, schließlich hatte sie es oft genug versucht – trotzdem fühlte es sich an, als würde sie ihre Freundin hintergehen. Anou würde es wohl auch so sehen, das ahnte Nele.
Als sie mit dem Duschen fertig war und sich abgetrocknet hatte, klingelte das Telefon. Sie lief ins Wohnzimmer hinüber, sah Anous Nummer im Display und nahm ab.
»Wie war das Seminar?«, fragte Anou und versetzte ihr damit gleich einen kleinen Stich ins Herz.
»Gut. Sehr interessant. Die Dozentin würde dir gefallen.«
»Optisch?«
»Auch, aber ich meinte mehr ihre Art zu unterrichten. Wo bist du? Hast du einen Einsatz?«
»Ich bin auf dem Weg ins Zentralkrankenhaus. Eine Frau ist einer versuchten Entführung entgangen. Ich will mal sehen, ob ich noch mit ihr sprechen kann.«
»Um diese Zeit? Wenn du der falschen Nachtschwester begegnest, reißt sie dich in Stücke.«
»Ich weiß, aber versuchen will ich es trotzdem.«
»Na, ich bin jedenfalls todmüde und gehe ins Bett. Pass auf dich auf, okay!«
»Klar doch. Bis morgen. Ich liebe dich.«
Nele legte auf und starrte das Telefon an.
Jetzt fühlte sie sich noch schlechter als zuvor.
Anouschka Rossberg steckte ihr Handy weg und lief die Stufen zum Eingang des Krankenhauses hinauf.
Nele hatte gar nicht gut geklungen. Es war nicht nur die Müdigkeit, sondern viel mehr diese Leere in ihrer Stimme, die Anou eigentlich gar nicht von ihrer Freundin kannte. Zudem war Nele in letzter Zeit oft angespannt, manchmal sogar gereizt. Wahrscheinlich lag es an der hohen Arbeitsbelastung. Sie sollten wirklich mal zusammen in Urlaub fahren.
Bevor Anou noch weiter darüber nachdenken konnte, bemerkte sie in der Eingangshalle des Krankenhauses zwei Polizisten in Uniform, die aus dem Fahrstuhl kamen.
Anou trat auf sie zu und stellte sich vor. »Oberkommissarin Rossberg. Haben Sie Frau Singer hergebracht?«
Bei den Polizisten handelte es sich um einen Mann und eine Frau. Der Mann hatte eine Glatze, auf der sich das Licht der Deckenlampen spiegelte, und eine sehr lange und krumme Nase. Gegen sein auffälliges Äußeres verblasste die unscheinbare Brünette an seiner Seite geradezu, trotzdem war sie es, die antwortete.
»Richtig. Sie ist jetzt auf Station 3. Wir wollten dort auf Sie warten, aber die Nachtschwester hat uns
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