Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
umspülten Füße wurden rasch taub.
Miriam wusste, sie durfte dieses Versteck nicht verlassen, bevor der Mann nicht verschwunden war. Sie biss die Kiefer fest aufeinander, um das verräterisch laute Klappern ihrer Zähne zu unterdrücken. Aus weit aufgerissenen Augen versuchte sie etwas von dem Licht der Taschenlampe zu erhaschen.
Plötzlich tauchte die flache Scheibe des Lichtkegels im Bachbett auf, schwamm ein paar Meter rechts von ihr auf dem Wasser, zuckte dann hin und her und tastete das jenseitige Ufer ab. Er suchte nach Spuren. Über sich konnte sie die schweren Schritte des Mannes spüren. Zweige knackten. Er stand jetzt praktisch über ihrem Kopf. Sie hörte ihn atmen.
Hoffentlich hält das Ufer, hoffentlich hält das Ufer!
Lehmbrocken fielen herab, landeten auf ihren Schultern und platschten ins Wasser. Sofort zuckte der Lichtkegel dorthin. Wenn sie die Hand ausstreckte, würde sie in den hellen Strahl hineinfassen, so nah war er.
Nach ein paar Minuten verschwand das Licht, und Miriam hörte, wie er sich entfernte.
Er hatte aufgegeben!
Sie wartete noch ab, bis sie lange Zeit weder ein Licht gesehen noch ein Geräusch gehört hatte. Als sie sich schließlich bewegte, waren ihre Füße und Unterschenkel taub von der Eiseskälte des Wassers. Mühsam stakste sie zum anderen Ufer hinüber, konnte dabei aber kaum das Gleichgewicht halten und stolperte ein ums andere Mal.
Auf allen vieren erklomm sie den Hang, zog sich dabei an Ästen und Sträuchern hoch und hielt erst inne, als am Rande der Senke der Wald endete. Dort ließ sie sich zu Boden fallen. Ihr Atem raste, ihre Finger schmerzten. Sie brauchte einen Moment Pause, wusste aber, dass sie keine Zeit verlieren durfte. Vielleicht kannte er sich hier aus und wusste, wo er sie abpassen konnte.
Nach einer halbe Minute kämpfte Miriam sich wieder auf die Beine und lief in einer tiefen, hart gefrorenen Traktorspur weiter.
Nicht aufgeben.
Nur noch ein paar Hundert Meter, dann hast du es geschafft.
So sehr sie sich auch zu motivieren versuchte, Miriam wurde doch immer langsamer. Sie hatte keine Kraft mehr, ihre Akkus waren leer, außerdem fühlte sie sich, als stecke sie im Körper einer alten Frau.
Schließlich erreichte sie eine Straße. Sie verlief in einem weiten Bogen um die Hügelkuppe auf die Lichter zu.
Die Hände um den Oberkörper geschlungen, humpelnd und vor Kälte und Erschöpfung zitternd, setzte Miriam in gleichmäßigem Rhythmus einen tauben Fuß vor den anderen. Der Mond schien ihr in den Rücken, und ihr Schatten fiel lang voraus auf die Straße. Sie konzentrierte sich darauf, versuchte den Schatten einzuholen, ließ sich von ihm ziehen, so wie sich ein Langstreckenläufer von einem Sprinter ziehen ließ. Dabei geriet sie in Trance, spürte ihre Lider immer schwerer und ihre Gedanken immer träger werden.
Das Auto bemerkte sie erst, als es direkt neben ihr scharf abbremste.
Gegen zweiundzwanzig Uhr parkte Nele Karminter ihren Wagen am Straßenrand vor dem roten, viergeschossigen Gebäude, in dem sie ihre Mietwohnung hatte.
Im Radio lief gerade »Chasing Cars« von Snow Patrol, ein Lied, das sie besonders mochte, weil es ihr das Gefühl vermittelte, über den Dingen zu schweben, besonders wenn sie mit dem Auto unterwegs war. Mit geschlossenen Augen blieb sie so lange sitzen, bis der letzte Ton verklungen war, erst dann stieg sie aus.
Der fast volle Mond schwebte über dem Dachfirst des Hauses. Sein silbriges Licht floss die Pfannen hinab und verwandelte sie in eine metallene Haut. Auf den Scheiben der anderen Fahrzeuge in der Straße hatte sich längst wieder eine Frostschicht gebildet, in der es kristallen funkelte.
Nele musste an ihre Mutter denken, die die Zeit um den Vollmond »Bleiche Tage« nannte. Vor fast zwei Wochen hatten sie zuletzt miteinander telefoniert, und ein Besuch war längst überfällig – wie so vieles andere auch. Den Friseurtermin hatte sie bereits zweimal abgesagt, und sie fühlte sich unwohl mit ihrem blonden Haar, das in den Ansätzen dringend nachgefärbt werden musste, weil es grau zu werden begann.
Nele ging langsam zum Haus hinüber und genoss dabei die kalte Luft auf ihren Wangen. Sie hatte nichts gegen den Winter, der in diesem Jahr scheinbar gar nicht enden wollte. Für Sonntag war sogar ein Blizzard angekündigt. Verrücktes Wetter!
Im Hausflur nahm sie die Post aus dem Kasten und sah sie durch, während sie die Stufen in den dritten Stock hinaufging. Nur Werbung und die Gehaltsabrechnung
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