Bleiernes Schweigen
Stimme ist fast nur ein Flüstern.
»Wenn du die Antworten findest, die du suchst, ruf mich an.«
Ich greife nach ihrem Arm.
»Und wieso sagst du mir nicht, was du weißt?«
Sie presst die Lider zusammen. Als sie sie wieder öffnet, gleicht ihr Blick verwittertem Marmor. Ich lasse sie los.
»Weil es so nicht läuft«, antwortet sie. »Du musst dahinterkommen, ob du wirklich dahinterkommen willst. Ob du meinst, das ist es wert.«
Sie öffnet die Tür. Auf der Schwelle dreht sie sich um.
»Ich will am Leben bleiben. Wenn das noch möglich ist.«
Ich habe nie an Zufälle geglaubt.
Zumindest nicht an die, die andauernd passieren. Zweimal hat Arianna genau das Gleiche ausgesprochen wie mein Vater und meine Tochter: einen Zweifel an dem, was ich im Gerichtssaal gesehen habe, und eine Ahnung – oder mehr als das –, was Michelas Todesursache betrifft.
Ich würde lügen, wenn ich behauptete, ich hätte ihr innerlich nicht zugestimmt. Und genauso gelogen wäre es, abzustreiten, dass ich es erst in dem Moment begriffen habe, als sie unten auf der Treppe verschwand und ich die Sicherheitstür hinter mir zudrückte.
Diese einfache, alltägliche, alles andere als symbolische oder erhellende Geste genügte.
In der Wohnung bleiben, während der Regen gegen die Scheiben prasselt, das Bedürfnis nach einem Pulli oder einer heißen Dusche, um die Kälte zu vertreiben. Der Drang, den Fernseher, die Stereoanlage, den Computer oder sonst irgendetwasanzustellen, das die beklemmende Stille in diesen vier Wänden vertreibt.
Und die hartnäckige Vorstellung, dass gerade etwas passierte. Oder besser, dass es bereits passiert war und mir nichts weiter übrigbleibt, als mich ihm auf die bestmögliche Weise zu stellen. Diesmal ohne so zu tun, als wäre nichts. Das war ich mir schuldig. Zumindest glaubte ich das.
Wenn ich heute zu jenem Abend zurückkehre, kommt es mir wie ein anderes Leben vor. Und vielleicht war das Schließen der Tür der Startschuss, mit dem eine blinde, arglose Unschuld anfing, aus meinen Tagen zu weichen. Doch obgleich ich inzwischen sehr viele Dinge weiß und Zeit und Reue für mich auf derselben Achse verlaufen, weiß ich ums Verrecken nicht, was ich hätte tun sollen, um der Zukunft eine andere Wendung zu geben.
Man entscheidet jedes Mal blind. Man wählt willkürlich aus einer endlichen Zahl von Möglichkeiten, wohl wissend, dass in dieser Liste fast immer das fehlt, was tatsächlich eintreten wird. Vielleicht sage ich das aus Erfahrung oder aus Erschöpfung. Oder weil einem am Ende einer Reise der Aufbruch immer nebelhaft erscheint. Man entscheidet sich für das, was geht, und hofft. Alles andere, vom Willen Gottes abwärts, dient lediglich dazu, einem die Verantwortung für einen möglichen Fehler zu nehmen.
Das denke ich heute; keine Ahnung, was ich an jenem Abend gedacht habe. Ich weiß allerdings, dass ich im Glauben, das Richtige zu tun, das einzig Mögliche getan habe.
Zwei Anrufe.
Der erste, um einen Freund nach zwei Adressen zu fragen, die ich brauchte.
Der zweite ging an meine Tochter. Um einen Fehler einzugestehen.
»Hast du dich entschieden, Papa?«
Sie kommt sofort zur Sache, wie immer. Wenigstens einer.
»Was meinst du?«
»Sag du’s mir. Normalerweise liegt was an, wenn du um diese Uhrzeit anrufst.«
»Aha.«
»Also?«
»Du hattest recht.«
Schweigen. Ein kurzer Augenblick, genug, um die Geräusche im Hintergrund zu dämpfen.
»Was meinst du?«
»Das brauche ich dir nicht zu sagen.«
»Verstehe.«
Mehr Antwort kann ich nicht erwarten. Drei Silben, in denen ein unterdrücktes Lächeln liegt.
»Ich hab mich so lange darum gesorgt, dass es dir gut geht, und jetzt, wo du nicht mehr da bist …«
»Hast du’s Opa gesagt?«
»Hätte ich sollen?«
Sie überlegt.
»Vielleicht nicht.«
Wieder Schweigen.
»Wie geht es dir?«
Sie lacht.
»Hör auf, dir um mich Sorgen zu machen, Papa. Glaubst du, du schaffst das?«
»Vielleicht.«
»Gut.« Pause. »Halt mich auf dem Laufenden, okay?«
»Giulia?«
»Ja?«
»Danke.«
»Wofür?«
»Stimmt, wofür eigentlich.«
Ich bin nicht in der Trauer um meine Frau versunken. Giulia hat es mir nicht erlaubt. Sie war zu klein, als dass ich ihr Leben in den Müllhäcksler meines Egos hätte werfen können.Das war ein Glück, so konnte ich überleben. Ich habe versucht weiterzumachen, mich nach anderen Frauen umgesehen, kein Keuschheitsgelübde abgelegt und dem Sozialleben nicht den Rücken gekehrt.
Doch das heißt nicht,
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