Bleiernes Schweigen
dass es Solara gibt, würde ich am liebsten antworten. Ich höre es in deiner Stimme, lese es in deinem Blick. Du bist mein Vater, ich kenne dich.
»Deshalb bist du hier, stimmt’s?«
»Ich bin hier, weil du vor dem Unfall mit ihr zusammengearbeitet hast. Und ich hab nie erfahren, worum es ging.«
Er sieht weg, greift nach dem Buch und legt es sich in den Schoß.
»Das ist lange her.«
Ich stehe auf. Das Gespräch ist beendet, gehet hin in Frieden.
Er bringt mich zur Tür, und diesmal ist es an mir, beiläufig zu klingen. Seit Jahren habe ich ihn das nicht gefragt, aber er ist nicht überrascht.
»Was erinnerst du von dem Unfall?«
Er lässt die Fingerknöchel knacken.
»Nichts«, erwidert er. Ich will lächeln, doch es gelingt mir nicht.
Du musst einen ziemlich großen Teppich haben, um so viel drunterzukehren.
Ich hole den Aufzug. Wir verabschieden uns nicht, das tun wir nie.
»Manche Fragen sollte man nicht stellen«, sagt er.
Die Kabine setzt sich in Bewegung, und während ich Richtung Erdgeschoss gleite, habe ich zum ersten Mal im Leben das Gefühl, er ist zu Tode erschreckt.
Die Straße ist klein und eng. Die junge Frau hat Angst.
Angst vor der Stille und vor den Geräuschen. Angst vor den Autos, die vorüberfahren, vor den Scheinwerfern, die sie aus der schützenden Dunkelheit reißen. Angst vor dem Klappern der Schritte, die über den regennassen Asphalt hasten.
Angst, zu sterben.
Sie weiß, dass es passieren wird, und es hilft nichts, die Tabletten in der Tasche zu haben, das Röhrchen zu berühren, das Plastik unter den Fingern zu spüren und sich zu sagen, dass ein paar davon reichen würden, um alles zu beenden. Nachdenken ist keine Hilfe, die Stimme in ihrem Kopf ist ein hungriges, verschlagenes Tier, das nicht daran denkt, siein Ruhe zu lassen. Statt sie zu beruhigen, lässt sie das Grauen wachsen, bis es in Panik umschlägt.
Nachdenken ist eine Pein. Sie weiß es, hat es immer gewusst.
Sie atmet ein.
Schließt die Augen.
Als sie sie wieder öffnet, steht der Mann auf der anderen Straßenseite. Er blickt sich um, sucht jemanden. Er trägt eine blaue Jacke, hat die Kapuze hochgezogen und kein Gesicht. Ein schwarzes Loch, in dem sie sich dunkle, pupillenlose Augen vorstellt.
Sie hofft, dass er sich nicht zu ihr umdreht, sie nicht sieht, nicht mit einem Blick kapiert, was zu tun ist, weshalb sie dort ist, was sie denkt, wie viel Angst sie hat.
Sie ballt die Fäuste, die Nägel graben sich ins Fleisch, der Atem stockt, wehrt sich gegen die Luft und die Welt. Dann geht der Mann an sein Handy, lacht, setzt sich in Bewegung, schlendert davon. Sie löst die Fäuste.
Ein Blutstropfen rinnt über die Handfläche, fällt auf den Asphalt und vermischt sich mit dem Regen.
Wenn ich es jetzt nicht tue, tue ich es nie, denkt sie. Sie steckt die Hand in die Tasche und tastet nach der kalten Pistole. Dann überquert sie so schnell es geht die Straße.
Ich war seit Monaten nicht mehr im Keller. Hier verstecke ich die Vergangenheit und die Dinge, von denen ich mich nicht trennen kann. Alte Computer, ein plattes Fahrrad, ein Lexikon von anno dazumal, ramponierte Koffer, mit denen ich keine Reisen mehr machen werde.
Der Karton mit Elenas Notizen steht gleich hinter der Metalltür. Unmöglich, ihn zu übersehen.
Er ist mit zwei Streifen verstaubtem Paketklebeband verschlossen. Auf einer Seite ist eine bunte Margerite. Elena hat sie gemalt, an einem Tag, der zu einem anderen Leben zu gehören scheint.
Früher stand er in einer Ecke des Wohnzimmers und enthielt dasselbe undurchschaubare Chaos, das ich jetzt vorzufinden glaube, sobald ich das Klebeband durchschneide. Als wären das Leben und der Tod nur durch ein Stück morsch gewordenes Klebeband getrennt.
Ich schließe den Keller ab, hebe den Karton hoch, rufe den Aufzug und fahre bis zu meiner Wohnung. Auf meinem Stockwerk bleibe ich stehen, den Karton in den Händen, den Blick starr auf meine Wohnungstür gerichtet.
Da steht ein junges Mädchen.
Sie hat tropfnasses Haar und einen verstörten Blick. Sie scheint erleichtert, mich zu sehen, will etwas sagen, schafft es nicht. Also muss ich den ersten Schritt tun. Ich frage sie, ob sie jemanden sucht, sie sagt, sie habe auf mich gewartet. Sie glaubte schon, ich sei nicht da, sie müsse mit mir reden.
»Ich kannte Michela«, erklärt sie. »Wir waren befreundet.«
Mehr braucht es nicht. Ich öffne die Tür, bitte sie mit einer Geste herein. Erst, als ich ihr in den Flur folge, sehe ich
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