Bleiernes Schweigen
dass ich Elena vergessen hätte. Oder dass ich mich nicht auch heute noch nach einem Lachen, einer Stimme, einer Silhouette umdrehe, die für einen allzu kurzen Augenblick ihr zu gehören scheint.
Den Karton mit der Margerite zu öffnen ist, als würde ich diesen Eindrücken nachgehen. Allerdings nicht nur für einen kurzen, harmlosen Moment.
Den ganzen Morgen bringe ich damit zu, ihn zu leeren. Beschriebene Blätter, farbige Hefter, Dutzende Moleskines voller Notizen, Zeichnungen, Schemata. Pfeile hinter Pfeilen hinter Namen. Zwei Adressbücher mit Telefonnummern von Menschen, die ich seit einer Ewigkeit nicht gesehen habe. Urteile, Verfügungen, Zeitungsartikel. Ihre, die meines Vaters. Eine alte Rezension von mir, zu einem Kubrick-Film, für eine Kinozeitschrift, die es seit zwanzig Jahren nicht mehr gibt.
Und der Notizblock.
Er ist es, ich weiß es sofort, und ihn durchzublättern macht fast Angst.
Wer ist Solara?
Der Satz auf dem letzten Blatt scheint einem Traum entsprungen zu sein. Halb lächelnd fahre ich mit dem Finger über die drei Worte. Sie ziehen sich über das ganze Blatt, wie ein Teppichmuster. Dann gehe ich die vorigen Seiten durch, ohne Erfolg. Ich nehme mir den nächsten vor und dann noch einen und noch einen. Nichts.
Ich fange von vorn an. Räume den Karton wieder ein und beginne bei den Sachen, die ich als Erstes ausgeräumt habe. Mit akribischer Sorgfalt sehe ich sämtliche Seiten, Randnotizen und hingekritzelten Anmerkungen durch, die nicht immer leicht zu entziffern sind. Am Ende brennen mir die Augen, es ist inzwischen Abend geworden, der Fußboden ist leer,und ich fühle mich wie am Ende eines Slaloms, bei dem ich aus unerfindlichen Gründen ein paar Tore ausgelassen habe.
Es fehlt etwas. Und nicht nur wegen der Abseitigkeit dieser Frage und dieses Namens, der nirgendwo sonst auftaucht: Elena datierte alles. Ehe sie irgendetwas aufschrieb, vermerkte, verfasste, hinkritzelte, schrieb sie das Datum darüber. Dem Inhalt des Kartons nach zu urteilen, hat sie vor ihrem Tod rund ein Jahr lang nichts mehr notiert.
Bis auf diese Seite, dicht beschrieben mit der immer gleichen Frage.
Wenn es Solara gibt, musst du dort anfangen zu suchen,
hat mein Vater gesagt.
Vorausgesetzt, jemand anderes ist nicht lange Zeit vor mir fündig geworden.
Das Quartiere Palazzo sieht aus wie ein wild zusammengewürfelter Haufen von Bausünden. Früher stand es auf der Liste der No-Go-Areas ganz oben. Heute ist es nur eine Wohnburg am Stadtrand mit trostloser Vergangenheit.
Hier lebt die Mutter von Michelas Mandanten. Claudia Villafane ist seit vielen Jahren verwitwet. Jemand hat ihrem Mann vor dem Haus aufgelauert und ihm ein Magazin auf den Pelz gebrannt. Alle haben die Schüsse gehört, aber keiner hat gesehen, wer geschossen hat.
Damals war ihr Sohn Nicola sechs Jahre alt. Sechs Jahre darauf wurde er das erste Mal wegen Drogen geschnappt, und ein weiteres Dutzend Jährchen später starb er keinen Meter von mir entfernt. Ironischerweise ist die Wohnung seines Mörders Angelo Mazza kaum zwei Kilometer weit entfernt.
Claudia wohnt im dritten Stock eines smoggeschwärzten Hochhauses. Klingeln ist überflüssig, die Eingangstür steht offen. Der Aufzug ist defekt, ich nehme die Treppe. Drinnen ist es sauberer, als es von außen den Anschein hat. Nach endlos vielen Sicherheitstüren und Treppenabsätzen erreiche ich endlich mein Ziel.
Ich sehe auf die Uhr. Klingele. Die Frau öffnet einen Spaltbreit, ohne die Sicherheitskette zu lösen. Ich sage meinen Namen. Erinnere sie daran, dass ich vorher angerufen hatte.
»Ich bin Journalist, Sie meinten, ich solle vorbeikommen.«
Sie schließt die Tür, löst die Kette, öffnet, bleibt auf der Schwelle stehen. Ihre Augen sind rot.
»Entschuldigen Sie, aber … ich habe es mir anders überlegt.«
Ich sehe sie wortlos an. Bleibe stehen. Sie schließt die Tür nicht.
»Was wollen Sie?«
Die Frage klingt wie ein Windhauch.
»Reden. Über Ihren Sohn.«
Sie hört mich nicht. Hebt die Stimme.
»Was wollen Sie?«
Die Worte hallen im Treppenhaus wider, zweimal, dreimal. Verlieren sich in der Stille. Es rührt sich etwas hinter den Nachbartüren. Sie kommen nicht heraus, lauschen. Ich weiß es. Hier können wir nicht bleiben.
»Lassen Sie mich doch bitte herein. Wir reden drinnen weiter.«
Sie schreit.
»Ihr sollt mich in Ruhe lassen, verstanden? Ihr sollt mich in Ruhe lassen!«
Wie um gegenzusteuern senke ich die Stimme.
»Ihr? Wer? Wer lässt Sie nicht in
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