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Bleiernes Schweigen

Bleiernes Schweigen

Titel: Bleiernes Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Fogli
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Ruhe?«
    Sie gibt mir eine Ohrfeige.
    Zischt.
    »Die haben meinen Sohn ermordet. Was wissen Sie denn schon, wie das ist, wenn einem der Sohn ermordet wird? Na? Was?«
    Ich sage nichts. Der Gedanke an Giulia durchzuckt mich. Allein die Vorstellung ist kaum zu ertragen.
    Sie hört nicht auf, macht einen Schritt auf mich zu, ihre Füße rutschen in den Lederpantoffeln hin und her, eine Strähne löst sich aus einer Haarspange und fällt ihr ins Gesicht.
    Wütend streicht sie sie zurück.
    »Wissen Sie, was das bedeutet? Nein, natürlich nicht. Und wie es ist, ein Kind im Knast zu haben? Jetzt habe ich nur noch einen Sohn. Nur noch einen. Und den will ich behalten.« Ihr Gesicht ist meinem ganz nah.
    Ein Tier, das sein Revier verteidigt.
    »Sie müssen gehen«, sagt sie. Ein verängstigtes Tier.
    Ich sehe zu Boden, sie weicht zurück. Es braucht keine Fragen mehr. Ich warte, während sich die Wohnungstür schließt. Hinter den Nachbartüren und im Stockwerk darüber sind Schritte zu hören. Ich gehe die Treppe hinunter. Ich brauche Luft. Hätte ich eine Zigarette, würde ich sie jetzt rauchen. Keine drei Stufen würde sie vorhalten.
    Draußen ist es windig und es riecht nach Regen. Ich schlage den Jackenkragen hoch, halte ihn mit beiden Händen fest und gehe zum Parkplatz.
    Ein Typ schaut mich an.
    Hände in den Jeanstaschen, dunkles Haar, Lederjacke, den Kopf leicht nach links geneigt. Er steht ein paar Meter entfernt vor einer Hecke. Er folgt mir mit dem Blick, und als ich an ihm vorbei bin, macht er ein paar Schritte in meine Richtung, wie jemand, der einen ungebetenen Gast zur Tür bringt. Ich tue so, als würde ich ihn nicht bemerken, und versuche ihn im Augenwinkel zu behalten.
    Ich erreiche den Parkplatz. Bleibe stehen. Er bleibt stehen. Als ich an meiner Autotür bin, werfen wir einander einen letzten Blick zu. Er steht ein Stück weit weg auf dem Rasen. Wartet.
    Ich steige ein. Einen Moment lang bin ich mir sicher, dass er kommt und mich wieder aus dem Auto zerrt. Oder dass sich jemand auf dem Rücksitz versteckt hat, um mir einen unvergesslichen Abschied zu bereiten.
    Doch es passiert nichts. Ich starte den Wagen, parke aus, fahre an ihm vorbei und versuche ihn zu ignorieren.
    Ohne Eile rolle ich von dannen und weiß, er will sichergehen, dass ich wirklich verschwinde.
     
    Adriano unterbricht das Telefonat und legt das Handy auf den Tisch.
    Angelo Mazzas Familie ist vor einem Monat weggezogen, und niemand weiß wohin. Es braucht kein Genie um zu wissen, dass man sie nie wiedersehen wird.
    Er schließt die Augen. Die Geschehnisse im Gerichtssaal sind eine rasche Folge verschwommener Bilder. Ein Fahndungsfoto von Mazza und eines von Michela Santinis Mandanten. Die beiden Polizisten mit ihren Familien. Die Fassade des Justizpalastes. Michelas Lächeln während einer Bergwanderung. Die Schlagzeile des
Corriere della Sera
:
Ich habe einen Verräter bestraft
.
    Er öffnet die Augen. Das Zimmer, der Fernseher, das Sofa. Die Bücher. Die Erinnerungen. Gedanken, die sich zu schnell und geräuschvoll drehen. Sie reiben sich aneinander wie Zahnräder, die nicht ineinandergreifen. Er holt tief Luft, ein leiser Schauder läuft ihm über den Nacken. Zuerst eiskalt, dann sengend heiß.
    Es gibt Geister, die man nicht rufen, Fragen, die man nicht wiederholen, Schweigen, das man nicht brechen sollte. Ungeschriebene Regeln, die er auswendig kennt. Schweig, ehe es zu spät ist. Schweig, aber behalte die Erinnerung. Schweig und warte auf den richtigen Moment.
    Als sein Leben sich änderte, hasste er das Schweigen. Heute ist es sein treuester Freund. Im Schweigen vor vielen Jahren hat er eine Entscheidung getroffen, die ihm unmöglich erschien. Im Schweigen vor wenigen Tagen hat er begriffen, dass etwas passieren würde. Im Schweigen dieses Augenblicks denkt er an Solara.
    Ein Name, den es nicht geben dürfte, den niemand kennt. Den er selbst vergessen zu haben hoffte.
    »Du bist ein Träumer«, sagt er in das leere Zimmer hinein.»Du bist ein Träumer«, flüstert er noch einmal. Er weiß, was geschehen wird, und trotz seiner Angst hat er keinen Zweifel. Es gibt nur eine mögliche Entscheidung, und die hätte er vielleicht vor vielen Jahren treffen sollen. Er greift wieder nach dem Telefon. Fängt an, eine Nummer zu wählen, hält inne.
    Noch ist genug Zeit.
    Er legt die Hände auf die Rollstuhlreifen und rollt langsam in die Küche. Ein Schokoladentäfelchen, der einzige Trost.
     
    Ich fahre das Auto in die Garage. Annie Lennox

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