Bleiernes Schweigen
Stimme hat einen starken sizilianischen Akzent.
Nach diesem ersten Satz folgt auf dem Band minutenlanges Schweigen. Dann hört man eine Tür, ein paar entfernte Worte, Schritte, die sich nähern. Weitere Stimmen, männliche, drei, vielleicht vier. Es lässt sich nicht genau sagen. Ein Stuhl wird gerückt, Flüssigkeit in ein Glas gegossen. Dann ein kurzes Schweigen, ehe alles beginnt.
Ich kann mich noch daran erinnern, als hätte ich es eben erst gehört. Der Klang der Stimmen – tatsächlich sind es vier, zwei davon tonangebend –, der Hall des Zimmers, die unterschiedliche Position des Mikros. Der Eindruck, dass geschnitten wurde, um etwas zu verbergen, einen Namen vielleicht. Ein klarer Schnitt zwischen einem Satz und dem nächsten, und mehrmals Störgeräusche, in denen Details untergehen. Ein fallendes Glas, eine Flasche, die abgestellt wird, ein Husten.
In manchen Momenten meine ich sie zu hören, mit unerklärlicher Deutlichkeit zerreißen sie die Stille meiner Tage. Es mag aus Erschöpfung, aus Wut oder das erste Zeichen des Wahnsinns sein, den die Einsamkeit, das Warten und die Gewissheit des Endes bereits vor langer Zeit in mir gesät haben.
Als ich diese Bänder zum ersten Mal gehört habe, hatte ich das Gefühl, als drückte mir jemand ein Kissen aufs Gesicht.
Es war in Adrianos Küche, die Rollläden waren trotz des frühen Nachmittages heruntergelassen. Wir hatten die Welt ausgesperrt, um die Vergangenheit zu rekonstruieren.
Die folgenden Male war es anders.
Andreas Wohnung, mein Vater, der ins Leere starrt, Danieles gesenkter Blick, in dem Schmerz, nicht Überraschung liegt, als würde ihm gerade gesagt, er sei betrogen worden.
Und dann die Stille, als die beiden Stimmen verstummen. Der Sizilianer und der Colonnello, so nannten wir sie. Sonst gab es nichts, woran man sie hätte identifizieren können. So glaubte ich zumindest.
Aber kann man mit diesen Leuten nicht reden?
Klar kann man. Und ich bin dazu in der Lage. Wer steht hinter euch?
Der, den Sie vermuten. Fahren Sie fort und machen Sie sich keine Gedanken.
Die Verhandlungstreffen dauerten nie länger als eine halbe Stunde. Sie begannen Anfang Juni 1992, rund zehn Tage nach Giovanni Falcones Tod, und setzten sich bis in die ersten Julitage fort.
Der Sizilianer lieferte ein Dokument.
Ich hab versucht, es zu bekommen. Ich weiß genau, wie die Sache ausgehen wird.
Dann hatte alles aufgehört. Paolo Borsellino war gestorben, und der Sommer ging dahin.
Im Oktober neue Aufzeichnungen. Keine der beiden ist vollständig. Es ist von einem Unterlagenaustausch die Rede. Der Sizilianer soll sie für den Colonnello beschaffen. Alles beschlossene Sache. Das einzige Problem besteht darin, es ruhig anzugehen und keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Klick.
Es brauchte das Klicken des Rekorders, um die Stille in der Tarnwohnung zu brechen. Daniele war aufgestanden, hatte das Band zurückgespult, und der Sizilianer hatte von vorn angefangen.
»Aufzeichnung vom 7. Juli 1992.«
Ein alter Mann mit fester Stimme. Hin und wieder träume ich von ihr.
Gestern ist es seit langem wieder passiert. Ich lag auf dem Sofa, den Kopf auf dem Kissen, ein Buch auf der Brust. Der Schlaf hatte mich ganz plötzlich nach dem Abendessen überkommen. Dann war ich hochgeschreckt, seine Worte noch im Ohr.
»Es war richtig so.«
Das Geräusch hatte wie ein Echo geklungen. Draußen, direkt vor der Eingangstür. Ein gedämpftes, stetes Scharren.
Vielleicht eine Hand am Schloss.
Ich war nicht sofort aufgestanden. Ich hatte an den Wind gedacht, an ein Gewitter im Anzug, an zig andere Dinge, die dieses Geräusch verursachen und auch wieder verschwinden lassen konnten. Schließlich hatte ich es drangegeben.
Mit einem Feuerbock in der Hand hatte ich die Tür aufgemacht.
Eine graue Katze. Seit einer Woche kam sie mich jeden Tag besuchen. Sie setzte sich in den Garten und betrachtete mich aus gebührendem Abstand. Ich tat so, als kümmerte ich mich nicht um sie, doch hinter einer Zeitung, einem Buch oder dem Computerbildschirm hervor beobachtete ich sie heimlich.
Sie saß da, überprüfte die Lage und durchquerte schließlich in unverständlichen Schlangenlinien den Laubengang. Dann kam sie herein, strich mir behutsam ums Bein, suchte sich ein immer neues Plätzchen und schlief bis zum Abend.
So spät war sie noch nie gekommen. Sie hatte mir noch nie etwas gebracht.
Das Opfer kämpfte mit dem Tod.
Es war eine Feldmaus, wie man sie aus dem Käfig eines Kindes oder dem
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