0942 - Die blutige Lucy
Wellen, Himmel, Wind und Wasser hatten sich zu einem Chaos vermengt. Und dazwischen, tief verborgen, nicht zu sehen, nur zu ahnen, dort lauerte das Böse, auf das Lucy so sehnsüchtig wartete.
Ihr Blick war zwar nach draußen gerichtet, gleichzeitig auch nach innen, als wollte sie in sich hinein lauschen. Irgendeine Botschaft mußte ihr die andere Seite zuschicken. Sie war auserwählt worden, denn sie hatte die Schrift gefunden, die einfach nicht lügen konnte.
Lucy feuchtete die trockenen Lippen mit der Zungenspitze an. Etwas rann kalt und heiß zugleich durch ihren Körper. Das Blut war dick und dünn zugleich.
Kochte es?
Lucy schloß für einen Moment die Augen, als sie an ihr Blut dachte. Es war so ungemein wichtig.
Nicht nur für sie. Es würde auch weiterhin eine wichtige Rolle spielen.
ES war unterwegs. Und damit war auch ER unterwegs.
Die junge Frau veränderte ihren Standort. Sie streckte den rechten Arm aus und krallte sich mit ihren Fingern im Stoff des Vorhangs fest. Dann schloß sie die Augen wie jemand, der sich treiben lassen will. Einfach wegfliegen in die Ewigkeit, hinein in die Leere, irgendwann wieder erwachen und am neuen Ziel sein.
Alles würde sich ändern, ganz bestimmt sogar. Sie würde die Freuden und die Lust erleben wie kaum jemand zuvor. Allein der Gedanke daran ließ sie zittern, und mit einer heftigen Bewegung drehte sie sich um. Mit langen Schritten eilte sie durch den großen Raum. Die Röcke flogen schattengleich mit ihren Säumen über den Boden, und Lucy mußte sie anheben, um nicht zu stolpern.
Das Licht der Kerzen bewegte sich heftig durch den Luftzug. Es warf ein Muster über ihr Gesicht und über ihre Gestalt. Es huschte wie aus einer anderen Welt kommend neben ihr her. Immer wieder lief sie hinein in diese tanzenden Schatten, die nach ihr griffen, sie aber nicht behinderten und sie auch über die breite und geschwungene Treppe hinweg in die oberen Gemächer verfolgten.
Dort lag Lucys Zimmer.
Sie riß die Tür auf, stürmte in den Raum, aber sie öffnete keines der beiden Fenster. Der Sturm war einfach zu stark. Er hätte alles aus der Verankerung gerissen.
Lucy erreichte ihr Bett. Sie drehte sich und warf sich auf den Rücken. Ihr Atem ging heftig. In den Augen schimmerte Feuchtigkeit. Ihr Mund blieb offen. Ihre Hände fuhren über den Körper hinweg.
Es störte sie noch, daß sie Kleidung trug.
Zuerst riß sie ihr Oberteil ab, daß die Knöpfe wegflogen. Das Unterkleid zerrte sie auch auf. Ihre Brüste waren so prall geworden, und sie stöhnte auf, als die Finger mit den Warzen spielten.
Es war die wilde, schon animalische Vorfreude auf ihn, die Lucy überkommen hatte.
Er würde sie nicht im Stich lassen. Er würde zu ihr kommen. Vielleicht war er schon da.
Lucy stöhnte, verdrehte die Augen, als sie zum Fenster schaute. Hinter der Scheibe heulte der Sturm wie ein wildes Tier mit unzähligen Mäulern und Stimmen.
Lucy Tarlington lächelte.
Es war seine Musik.
Sie begleitete ihn.
Und dann würde alles anders werden…
***
Zum Glück gehörte zu dem kleinen Lokal ein Parkplatz. Und zum Glück war er nicht weit vom Eingang entfernt.
Und zum Glück hatte ich noch eine Lücke für meinen Wagen finden können.
Es regnete nicht, es goß. Damit war es nicht getan, denn über London hinweg fegte zugleich ein wilder Herbststurm, als wollte er alles aus der Verankerung reißen, was nicht niet- und nagelfest war. Hinzu kam der Temperaturanstieg bis in den zweistelligen Bereich.
Ein Wetter, das Kreislaufkranken zusetzte. Es sorgte zudem dafür, daß die Zahl der Grippekranken anstieg, die Erkältungen zunahmen und die Apotheker sich die Hände rieben, weil sie in dieser Zeit zahlreiche Mittelchen verkauften.
Bevor ich die Wagentür öffnete, griff ich nach hinten und zerrte meinen Mantel vom Rücksitz. Dann stieg ich aus. Den Mantel hängte ich wie eine Plane über den Kopf, mußte ihn aber mit einer Hand festhalten, damit ihn mir der Sturm nicht wegwehte.
Ich schloß ab, drehte mich und stürmte auf den Eingang zu, begleitet von den wuchtigen Böen, die gegen mich schlugen, als wollten sie mich von den Beinen reißen.
Die dicken Regentropfen klatschten mir auch ins Gesicht; sie waren kalt wie Schnee.
Ich war froh, den schützenden Eingang des Lokals zu erreichen. Mit der Schulter drückte ich die Tür auf. Die bullige Wärme vermischte sich mit den Gerüchen der Speisen. Mexikanische Musik drang aus den Lautsprechern.
Ich hatte meinen Mantel vom Kopf
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