Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
verkriechen. Da er sich keinen Rat wußte, ging er in den Wald und fragte den Raben. Der holte ein Ei aus dem Nest, teilte die Schale und schloß den Jüngling hinein. Dann setzte er sich zum Brüten darauf. Die Prinzessin trat ans erste Fenster und sah nichts, ebenso nicht am zweiten Fenster. Sie wurde schon unruhig, aber im elften Fenster sah sie ihn. Sie ließ den Raben erschießen, das Ei holen und schenkte dem Jüngling das Leben.
Am nächsten Tag ging er zum See und fragte den Fisch. ›Komm in meinen Bauch‹, sagte dieser. Er verschluckte ihn und tauchte zum Grund des Sees. Wieder brauchte die Königstochter elf Fenster, um ihn zu finden. Der Fisch wurde getötet und dem Jüngling zum zweitenmal das Leben geschenkt.
›Morgen kommt dein Kopf auf den hundertsten Pfahl‹, sagte die Prinzessin und ärgerte sich beinahe ein wenig.
Er ging zum Fuchs, der nahm ihn mit zu einer Zauberquelle. Der Fuchs tauchte unter und verwandelte sich in einen Kaufmann. Auch der Jüngling mußte untertauchen. Er wurde in ein Meerhäschen verwandelt. So zogen sie in die Stadt. Das Volk staunte über das Meerhäschen. Zuletzt kam die Königstochter, und weil sie großen Gefallen an dem Tier hatte, wollte sie es kaufen. Der Kaufmann nahm viel Geld dafür. Bevor er ihr das Meerhäschen übergab, flüsterte er in eines seiner langen, blauen Ohren: ›Wenn die Prinzessin ans Fenster geht, schlüpfe schnell unter ihren Zopf.‹.<
Die Prinzessin wollte ihn nun suchen. Am ersten Fenster sah sie nichts, auch am zweiten nichts und so fort. Als sie auch beim zwölften nichts sah, schlug sie es vor Wut so gewaltig zu, daß das Glas zersplitterte und das ganze Land erbebte. Plötzlich fühlte sie das Tier unterm Zopf. Sie schleuderte es zu Boden und rief: ›Fort mit dir‹<
Der Bursche ging zum Kaufmann zurück, und der führte ihn zur Zauberquelle. Beide nahmen sie ihre urspüngliche Gestalt wieder an.
Der Jüngling ging zum Schloß zurück, wo die Prinzessin bereits ergeben auf ihn wartete. Die Hochzeit wurde gefeiert, und er war nun König. Er erzählte seiner Frau niemals, wie er sich zum drittenmal versteckt hatte, und so glaubte sie, er habe alles aus eigener Kraft getan, und darum hatte sie Achtung vor ihm, denn sie dachte: Der kann doch mehr als du! Sie sah auch nie mehr zu den Fenstern hinaus, sondern abends saßen die beiden im Saal und lasen, und immer war ein anderes Fenster erleuchtet. So lebten sie glücklich und in Frieden, und wenn sie nicht gestorben sind...«
»... dann leben sie noch heute!«
»Wer von uns dreien ist jetzt der jüngste Bruder, Dick, Piet oder Schläfti?«
Wir schwiegen eine Weile und lauschten. Draußen sangen sie:
Hurra! Hurra!
Man lebt ja nur einmal!
Und einmal ist keinmal!
Nur einmal lebt man ja!
Hurra! Hurra!
Zum Lachen und Scherzen,
Zum Küssen und Herzen,
Hurra! sind wir da!
Nur du! Nur du!
Schwört jeder immerzu!
Man girrt und schnäbelt,
Süß benebelt,
Nützt die flüchtige Zeit, die goldene!
Drum tanz, mein Lieber,
Eh’s vorüber!
Heut’ ist heut’!
»Ich würde jetzt gerne tanzen mit dir, aber sie haben mir die Fußgelenke gebrochen«, sagte Schläfti.
»Warum haben sie das getan?«
»Weil ich dir geholfen habe.«
Er begann plötzlich zu weinen, wie ein ganz kleines Kind. Ich tastete nach seinem Gesicht, es war naß von Rotz und Tränen.
»Schläfti«, flüsterte ich, »du brauchst dich nicht zu fürchten. Ich bin doch bei dir.« Meine Stimme hatte den typischen, singenden Ton, wie ich ihn von meiner Mutter her kannte, wenn sie mich beruhigen wollte.
»Du meinst, du bist wirklich bei mir?« Schläfti begann zu kichern. Dann sagte er: »Und ich bin wirklich bei dir.«
Ich erhob mich und tastete die Wände entlang. Drüben wurde ein neues Lied geprobt.
So ein lustiger Roman
Geht vorüber!
Und man stirbt nicht gleich daran,
Nein, mein Lieber!
So ein lustiger Roman
Ist zum Lachen!
Ja, da kann man
Nichts mehr machen!
Lalalalalala!
’s ist zum Lachen!
Lalalalalala!
Nichts zu machen!
Ich spürte kaltes Glas unter den Händen, dann fiel etwas zu Boden, ein Kamm, ein Döschen vielleicht. Plötzlich hatte ich ein Kästchen in der Hand, in dem es bei jeder Bewegung rasselte. Ein typisches Geräusch, das jeder Raucher kennt, eine Streichholzschachtel. Ich fischte ein Hölzchen heraus, riß es an, eine Flamme zuckte, der Raum tanzte voller Schatten, im Spiegel erschien mein Gesicht wie eine Karnevalsmaske. Ich fand eine Kerze und zündete sie an, dann kümmerte ich mich um
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