Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
nahm ihre Hand. »Ich wünsche Ihnen schöne Festtage«, sagte ich. Frau Volz stammelte etwas, das ich nicht verstand. Dann zog sie sich mit gesenktem Haupt zurück.
Eine Gruppe alter Leute näherte sich. Sie krochen langsam, unsicher, manche hüpften, andere blieben immer wieder stehen, um Atem zu schöpfen. Ein großer Mann war ihnen auf den Fersen und trieb sie mit seinem Spazierstock wie Gänse an. Er trug einen erstaunlich hohen Zylinder, den er lüftete und schwang, als er uns sah, Doktor Vielbrunn.
Auch andere erkannte ich, die Wirtin der Grafenschenke, junge Leute aus dem Café Harmonie, den Polizisten, der mich vernommen hatte, den Dichter, der mit seinem Samtjäckchen, dem langen Wollschal und der Baskenmütze wie die Karikatur eines Kunstmalers aussah.
Dann sah ich Ines und Dick. Sie hielten sich an den Händen, und sie stritten sich. Ines in ihrem Kaninchenfellmantel, Dick in einer Jeansjacke, das Hemd provozierend offen. Schnee fiel in großen Flocken. Sie waren gelb, und wenn sie auf der Hand schmolzen, blieb ein dunkler Rand zurück.
Ich zog Schläfti mit mir fort, ehe Dick uns erkennen konnte. Wir versteckten uns hinter dem Holzstoß im Innenhof. Was war nur los mit Dick, warum zeigte er sich plötzlich in aller Öffentlichkeit?
Wir warteten, bis wir sicher sein konnten, allein zu sein. Dann gingen wir den Weg hinunter, durch den Matsch, Schläfti humpelnd und fluchend, ich in einer Stimmung, die so undefinierbar war, daß sie einer Betäubung gleichkam.
Unterwegs warfen wir unsere Verkleidungsstücke fort. Irgendwo im Dreck lagen nun ein Kaiser-Wilhelm-Bart, eine blonde Perücke und ein schwarzer Schleier. Am Ehrenmal der russischen Armee trennten wir uns. Schläfti sagte: »Geh in den Park und versuche, möglichst ohne Aufsehen zu dem kleinen Bahnwärterhäuschen zu kommen, das vor der Tunneleinfahrt liegt. Sage einen schönen Gruß von mir.«
Er gab mir die schlaffe Hand. »Du mußt mir versprechen, morgen mit dem LKW-Fahrer abzuhauen«, sagte ich.
»Ich schreib dir aus der Türkei. Gib mir deine Adresse.«
Ich zog die Weihnachtskarte meiner Mutter aus der Jacke und gab sie ihm. »Bin in Gedanken bei dir«, sagte Schläfti.
Wir umarmten uns und klopften uns auf die Schulter. Dann verschwand er um eine Ecke, und ich bog in eine leere Straße ein, wobei ich mich am Sternbild der Schloßfenster orientierte, um die Richtung zum Park einzuhalten.
Als ich an einer Telefonzelle vorbeikam, fiel mir meine Mutter wieder ein. Ich erreichte sie auch, aber ihre Stimme klang diesmal sehr fern.
»Ich war dort«, sagte sie. »Mein Urteil: dieser Mensch, dein Wilhelm, war einsam, er war unsicher, er war schwach. Allein die vielen Militärmotive an den Wänden sprechen eine deutliche Sprache, mein Sohn, es ist überdeutlich, daß er mit seiner Rolle als Kaiser überhaupt nicht klarkam. Ein Pantoffelheld war er, und er war aggressiv wie alle Pantoffelhelden. Natürlich nicht öffentlich, aber dafür um so mehr privat. Als Vierjähriger soll er unter dem Tisch einem Onkel ins Bein gebissen haben. Er trug dabei einen schottischen Kilt und einen Dolch an der Seite. Es war anläßlich der Hochzeit seines Onkels. Ein muffiger, kleiner, bösartiger Kerl war dein Kaiser, ich glaube, er hatte einen Großmutterkomplex.«
»Einen was, bitte?« schrie ich ins Telefon.
»Schrei nicht so«, sagte meine Mutter. »Und überhaupt, warum schnaufst du dauernd?Hast du Probleme?«
Offensichtlich war die Verbindung auf ihrer Seite exzellent.
»Auch wenn dein Freud keinen Großmutterkomplex kennt, laß es dir gesagt sein, es gibt ihn. Dein Kaiser hatte immerhin eine Großmutter vom Schlage der Queen Victoria. Kein Wunder, daß er sein Leben lang nicht aus den Windeln kam, das arme Kerlchen. Deshalb war er auch homosexuell. Ich habe nichts gegen Schwuchteln, aber sie sind wahrscheinlich nicht kaiserfähig, dazu sind sie viel zu nett, wenn man sie nur läßt. Ich sage dir, sei froh, daß ich dich nicht auch so an mich gebunden habe. Ich habe immer darauf geachtet, daß du dich abnabeln konntest. Wann kommst du endlich zurück, mein Sohn...« Das Gespräch war zu Ende. Ich hängte den Hörer ein und ging auf die Straße.
Die Dunkelheit war gerade im richtigen Moment gekommen. Sollte ich Beschatter haben, würde ich sie abschütteln können. Es gab genug Bäume im Park. Teilweise bildeten sie kleine Wäldchen, in denen schon tiefe Nacht herrschte.
In eines dieser Wäldchen trat ich und verhielt mich vollkommen still. Nichts
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