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Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman

Titel: Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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Sängerstimme mit Tremolo vorgebrachten Satzes auf mich zu prüfen. Ich nickte. »Darf ich diesen Satz in meinem Artikel zitieren?«
    Doktor Vielbrunn schien geschmeichelt. »Würden Sie mir das Manuskript bitte vor der Veröffentlichung schicken? Es könnten sich leicht Fehler, bedingt durch den Enthusiasmus des Nichthistorikers, einschleichen. Ich werde veranlassen, daß Ihnen das gewünschte Material in den Leseraum gebracht wird. Leider haben wir keine Pläne des Komplexes, aber zur Geschichte des Schlosses ist einiges schriftlich erstellt worden. Ich selbst habe zwei längere Aufsätze dazu verfaßt.«
    Er erhob sich, trat ans Fernrohr und sah hindurch. »Wissen Sie«, fuhr er fort, »dieses Schloß hat schon einiges an Veränderungen überstanden. Die Menschen da unten« - er zeigte auf den Ort, in dem immer noch Smogstufe eins herrschte, obwohl wahrscheinlich die nächsthöhere angebracht wäre -»haben lange Zeit an das geglaubt, was hier oben im Schloß für sie entschieden wurde. Sie waren treue Kinder des Landesvaters. Das hatte den Vorteil, daß es ihnen nie an der Orientierung fehlte. Nun aber...«, er drehte an der Einstellschraube des Okulars, »wuseln sie aufgeschreckt und ziellos durch ihr kleines, jammervolles Weltall. Sehen Sie selbst!«
    Er trat zur Seite und ließ mich durch das Teleskop blicken. Ich erkannte den Marktplatz, sah mein Hotel, sogar mein Zimmerfenster war auszumachen. Alles stand auf dem Kopf, wie es sich für einen astronomischen Refraktor gehört. Ich bewegte das Instrument in seiner Lagerung, schwenkte hinüber zum Buchladen und hielt den Atem an, denn plötzlich sah ich Ines. Sie kam aus dem Laden und ging quer über den Platz. In der Hand trug sie ein kleines Paket. Sie verschwand damit im Hotel. Hinter mir hörte ich den sonoren Bariton Doktor Vielbrunns: »Heute wissen die Menschen nicht mehr, woran sie sich orientieren sollen. Sie gleichen Planeten, die ihre Bahn um die Sonne verlassen haben, Irrläufer sind sie in der kalten Weite der Unendlichkeit. Alles verfällt. Auch wir hier oben haben nicht mehr viel Zeit. Wenn sich niemand im Westen findet, der aus unserem Schloß ein Luxushotel macht, werden wir den Kampf gegen die Zeit verlieren. Die meisten Dokumente, die wir besitzen, haben ihn schon verloren, wie Sie gleich sehen werden.«
    Draußen hörte ich wieder die Schläge einer Axt. »Hier wird offenbar noch viel mit Holz geheizt«, sagte ich.
    »Nein, nein. Die armen Leute hier heizen mit Braunkohle. Sie ist sehr schwefelhaltig und hat einen geringen Heizwert. Sie meinen das Holzhacken da draußen? Das ist der ehemalige Verwalter. Seit er nichts mehr zu tun hat, hat er die Hackeritis. Es ist besser so, sonst würde er bei seinen ungenutzten Kräften vielleicht noch zum Gewalttäter.«
    Doktor Vielbrunn lachte und rieb sich die Hände. »Wilhelm ist verrückt. Aber er versteht es, dabei äußerst normal zu wirken. Ich möchte Ihnen jetzt das Archiv zeigen, Doktor Hieronymus.«
    Wir durchquerten ein Nebenzimmer, wo eine junge Frau damit beschäftigt war, einen Stapel graues, brüchiges Papier, der wohl einmal ein Buch gewesen war, in ein hölzernes Gestell zu legen. Mein Führer öffnete eine zweite Tür. Sie führte in das Archiv.
    »Wissen Sie, was das Besondere an unserem Ort ist?« sagte er. »Seine Doppelheit. Man könnte fast, um einen modernen Ausdruck zu benutzen, von Schizophrenie reden. Was die deutsche Nation nach dem Zweiten Weltkrieg erlitt, war hier schon vor Jahrhunderten Normalität. Wir wurden geteilt, weil das Fürstentum aus Erb schaftsgründen geteilt worden war. Die Grenze verlief mitten durch den Ort. Und so gab es alles doppelt. Zwei Schlösser, zwei Parks, zwei Seen, zwei Kirchen, zwei Marktplätze. Wenn Sie aufmerksam beobachten, werden Sie feststellen, daß es hier sogar zwei Arten von Menschen gibt. Der Kommunismus hat daran auch nichts geändert. Die einen gehen langsam, unsicher, fast ein wenig stolpernd, die anderen hasten, bilden sich ein, etwas Wichtiges vorzuhaben.«
    Die Sängerstimme von Doktor Vielbrunn hallte in den Gewölben wieder, die wir betraten. Überall waren Bücher, Schriften, Zeitungen, Urkunden gestapelt. Es roch nach Schimmel, nach Moder.
    »Es gibt seltsamerweise auch zwei Arten von Schriftstücken. Die einen halten sich wunderbar, die anderen zerfallen ganz plötzlich zu Staub. Und es gibt Menschen, die immer fleißig und brav gearbeitet haben, hervorragende Untertanen, unauffällig, aufrichtig, ohne große Ansprüche.

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