Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
interessiere.«
Seine Miene hellte sich wieder auf, und die Flüsse auf Stirn und Schläfen traten in ihr Bett zurück.
»Sie haben recht, Doktor Hieronymus. Und ich möchte mich für meine Skepsis entschuldigen. Wissen Sie, wir haben lange Zeit ein höchst zwiespältiges Verhältnis zu Verhören gehabt, daher wohl meine Überreaktion. Ja, wir haben hier eine bedeutende Theatertradition, wenn dies auch sehr wenig nach außen dringt und im Westen fast überhaupt nicht wahrgenommen wird. Hier spielen im Sommer viele freie Gruppen. Ritterstücke, Königsdramen, auch Komödien wie den Sommernachtstraum. Das eigene Ensemble des Hauses neigt mehr dem Singspiel zu. Aber auch dem experimentellen modernen Theater. Ich habe die Ehre, zuweilen in Nebenrollen aushelfen zu können.«
»Ich vermute, daß Sie auch singen.«
»Sie haben recht. Ich habe dieses schöne Hobby.«
Er stand auf und ging voran. Jede Tür hinter uns schloß er sorgfältig ab. Dann brachte er mich zum Lesesaal. Dies war ein im Vergleich zu den anderen Sälen recht kleiner Raum, vollgestopft mit Tischen, Stühlen und Menschen. Fast alles ältere Frauen, die wie Hausfrauen aussahen, jedenfalls nicht wie Wissenschaftlerinnen. Sie blätterten in großen Aktenordnern oder gebundenen Urkundensammlungen. Manche wisperten miteinander, worauf ihnen jedesmal ein junger Mann, der in der Nähe der Fenster hinter einem Stehpult am Fenster stand, strafende Blicke zuwarf. Meine Texte lagen schon bereit, und offensichtlich war auch extra Platz für mich geschaffen worden, denn man hatte einen Stuhl und ein Tischchen direkt vor das Stehpult gestellt, wodurch der dort arbeitende, irgendwelche Listen durchmusternde Jüngling über mir schwebte wie ein hölzerner Heiland.
Ich begann zu lesen, überflog die Seiten, ohne genau zu wissen, was ich suchte. Es waren alles langweilige, penible Ausführungen der Geschichte des Fürstentums, zur Baugeschichte, zu den nicht enden wollenden Erweiterungsbauten, alle Stilepochen hindurch. Bei jedem fürstlichen Kind wurde gebaut, Giebel, Seitengebäude, allein das Küchenhaus bekam allmählich die Ausmaße eines mittleren Landgutes. Das Schloß war wie ein wucherndes Geschwür, das allmählich die ganze Bergkuppe bedeckte. Leider fand ich keine Hinweise auf die unterirdischen Teile der Anlage, die mich besonders interessierten. Nur eine kleine Notiz: als der Eisenbahntunnel gebaut wurde, seien einige Tiefkeller zugeschüttet bzw. zugemauert worden, da sie von der Streckenführung berührt wurden.
Ich hatte genug. Die studierenden Hausfrauen verstanden es im übrigen prächtig, ohne ein Wort darüber zu verlieren, mir deutlich zu machen, wie lästig ihnen meine Anwesenheit sei. Ich hatte das Gefühl, sie wollten mich ausschwitzen wie einen Grippevirus.
Also nahm ich meine Notizen und ging ohne Gruß, nur von einem mißbilligenden Kopfschütteln des Menschen am Stehpult verabschiedet. Plötzlich fiel mir Schläfti ein. Ich sah auf meine Uhr und stellte fest, daß ich mich vor gut zwei Stunden von meinem Freund getrennt hatte.
Zu meiner Verblüffung stand er draußen im Schnee neben einem Schneemann, der mir offensichtlich ähnlich sehen sollte. Einen so großen und so dünnen Schneemann hatte ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Schläfti strahlte. Auf meine Entschuldigungen reagierte er nicht. Er klopfte mir auf die Schulter und fragte mich, ob ich weitergekommen sei.
»Wer sind diese forschenden Damen alle?« sagte ich.
»Du meinst sicher diese Leutchen, die nach Belegen für früheren Hausbesitz suchen. Es ist schon ein Kreuz, wenn eine Wolke beweisen muß, daß der Schatten da unten von ihr geworfen wird, wo es doch vom Stand der Sonne abhängt.«
»Schreibst du zufällig Gedichte, Schläfti?«
Er lachte. »Wie kommst du denn auf diese Idee!«
Wir gingen durch einen kleinen, niedrigen Nebenausgang vor die Schloßmauer. Ein schmaler Weg führte hier um die ganze Anlage herum. Links die alten Mauern der Burg, rechts ging es steil hinab in das Tal.
»Ich kenne jeden Winkel«, sagte Schläfti. »Wir haben immer Ritter gespielt. Das ist doch klar, wenn man so eine echte Burg zur Verfügung hat. Es gab die Stadtbande und die Schloßbande. Die anderen waren uns zahlenmäßig überlegen, aber wir kannten uns hier besser aus. Wir sind oft belagert worden, aber wir hatten Verstecke, die niemand fand. Hier zum Beispiel.«
Wir waren am vorderen Teil der Burganlage angelangt, am Bug des Schiffes sozusagen. Hier gab es eine
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