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Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman

Titel: Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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Und plötzlich werden sie aus heiterem Himmel krank und sterben.«
    Irgendwo raschelte etwas. »Es gibt Ratten«, sagte Doktor Vielbrunn, »erschrecken Sie nicht, wenn eine vorüberhuscht.« Er sagte tatsächlich »vorüberhuscht«, ein Ausdruck, den ich niemals mit einer Ratte in Verbindung gebracht hätte.
    »Dann gibt es die Menschen, die sich an alles dranhängen, die Schmarotzer, die Geschickten, die Mitläufer, die, die hoch hinauswollen. Sie sind oft die Gesünderen, so ungerecht ist die Welt.«
    Vielbrunn seufzte. Er schien aufrichtig bekümmert, lehnte in einer der Fensternischen und hob wie in Verzweiflung die Arme. »Es ist ihnen doch bekannt, Doktor Hieronymus, daß viele Menschen Ratten sind. Ratten sind an sich nichts Böses, aber sie sind Wirtstiere von Krankheitserregern.«
    Er holte einen großen Schlüssel aus seiner Sakkotasche und öffnete die nächste Tür.
    »Hier liegen die hoffnungslosen Fälle.« Er deutete auf endlose Regale, die sich unter ihrer Last bogen. Papier in allen möglichen Verfallsstadien, ein durchdringender Geruch nach Moder und Schimmel.
    »Wir wissen absolut nicht, was sich hier für Schätze verbergen. Es gibt sogar Vermutungen, daß sich ein Tagebuch des letzten deutschen Kaisers darunter befindet. Der Zustand des Papiers ist so schlecht, daß es sich bei der bloßen Durchsicht in Staub auflösen würde.«
    In einer der düsteren Ecken des Raumes stand ein hölzerner Schemel. Doktor Vielbrunn steuerte darauf zu und setzte sich. Er deutete auf eine weitere Tür. »Hier geht es weiter ins Niemandsland der Vergangenheit«, sagte er. »Wir wissen nicht, wie viele Räume noch voll mit Material sind. Es ist unmöglich, alles zu erfassen, bei unserer Personalsituation. Diese Tür ist versiegelt worden. Ich habe nicht mal einen Schlüssel.«
    Er fingerte wieder in einer Jackentasche herum, und ich war gespannt, was seine Hand zum Vorschein bringen würde. Es war eine Banane, die er zu schälen begann. Er biß in ihr weißliches Ende hinein und kaute genüßlich. »Wissen Sie«, sagte er mit vollem Mund, »die Banane und die Bratwurst haben die Form in gewissem Sinne gemeinsam. Ist das nicht symbolisch? Wir sind eine Bananenrepublik, deren bekanntestes Produkt die Bratwurst ist. Das beschreibt doch eigentlich alles, unsere politische Situation, wie sie früher war und wie sie bei Licht besehen auch noch heute ist. Das Gefangensein und die Freiheit, sie sind sich nämlich ähnlicher, als wir denken. Haben Sie sich übrigens unsere Dächer mal genau angesehen, Doktor Hieronymus?«
    Ich verneinte schuldbewußt. Dieser Mensch wurde mir von Minute zu Minute unheimlicher.
    »Es gibt zwei herausragende Dinge auf unseren Dächern. Herausragend im wörtlichen Sinne. Es ist der Schlot, der die Luft verpestet, und die sogenannte Salatschüssel, will sagen, die Satellitenantenne. Der Schornstein ist das gebende Prinzip, er sondert ab, er stinkt in die Atmosphäre hinein, damit die Leute es warm haben beim Fernsehen, die Schüssel ist das nehmende Prinzip, das empfangende. Phallus und Vagina auf unseren Dächern. Eine gräßliche Form der Begattung findet tagtäglich dort oben statt. Dieses Leben aus zweiter Hand, das wir aus den westdeutschen Fernsehsendern empfangen. Aufguß der amerikanischen Form des Irreseins. Und dazu gleichzeitig diese Schlote, die den Treibhauseffekt verstärken. Braunkohle, die sinnloseste Form fossiler Energie, wird verfeuert, damit die Leute es warm haben bei Rudi Carrell.«
    Doktor Vielbrunn legte die Bananenschale sorgfältig zusammen und stopfte sie in seine Jackentasche. Er schien keineswegs beunruhigt über das, was er an negativer Weltsicht zum besten gab. Eher wirkte er zutiefst zufrieden.
    Ich hielt den Augenblick für günstig, meinem Gegenüber eine Frage zu stellen. »Wie gut sind eigentlich die Nachtlöhner?«
    Die Reaktion war heftig. Doktor Vielbrunn starrte mich an. Sein Gesicht wurde rot, die Adern an seinen Schläfen schwollen wie Flüsse während der Schneeschmelze. Dieser Zustand dauerte einige Sekunden. Kein Wort fiel. Dann hatte er sich wieder in der Gewalt.
    »Sind Sie wirklich Fachjournalist, Herr Hieronymus?« fragte er. Meinen akademischen Grad hatte er weggelassen.
    »Die Leser unseres Magazins interessieren sich nicht nur für Baugeschichte, auch für Kulturgeschichte selbstverständlich. Mir wurde erzählt, es gebe hier oben auf dem Schloß eine lange Theatertradition. Es ist doch selbstverständlich, daß ich mich dafür

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