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Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman

Titel: Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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zumuten kann, am wenigsten dem, der sie empfindet. Eine dumpfe Sehnsucht, ein süßliches Ziehen in der Brust, eine Unfähigkeit der Blicke, auf Wirklichem zu ruhen.
     
    Ich ertappte mich dabei, nach Weihnachtsdekorationen Ausschau zu halten. Es gab erfreulich wenig davon. Auf dem Marktplatz wurden die Gehwege mit Asche gestreut. Ich ging zur Telefonzelle und versuchte, meine Mutter zu erreichen. Vergeblich. Immer wieder eine monotone Stimme vom Band mit dem Satz »Kein Anschluß unter dieser Nummer«. Durch die schmutzigen Glaswände der Telefonzelle sah ich jemanden vorbeigehen, den ich kannte. Der Kerl mit dem Menjoubärtchen. Er trug einen großen schwarzen Koffer in der Hand.
    Ich stürzte hinaus und rannte ihm nach. »Hallo«, sagte ich. »Wir kennen uns, von der Lesung neulich im Kulturkaffee. Und ich habe Ihre phantastische Leistung beim Billard gesehen.«
    Er schien nicht gerade begeistert. »Ich habe leider wenig Zeit.« Er legte mit einer ausholenden Armbewegung seine Uhr frei.
    »Verreisen Sie?« fragte ich.
    Er schüttelte den Kopf. »Ich habe zu tun. Wir proben.«
    »Ach, wird hier auch Theater gespielt?«
    »Natürlich, wir haben ein Theater, das wissen Sie doch ganz genau.«
    Es war deutlich, daß er mich loswerden wollte. Er hielt den Koffer die ganze Zeit in der Hand, ohne ihn abzusetzen.
    »Was wird gespielt?«
    »Die Csárdásfürstin.«
    »Die verschleierte Dame?«
    Bis heute weiß ich nicht, warum ich diese Frage stellte. Seine Reaktion war überraschend. Er setzte den Koffer ab, legte beide Hände auf meine Schultern, sah mir direkt in die Augen und begann zu singen. Erst leise, dann immer lauter. Dabei wiegte er sich in den Hüften, griff mir unter den Arm und drehte sich und mich im Walzertakt.
    »Liebchen, mich reißt es,
Liebchen, du weißt es,
Glühend, sprühend zu dir!
Herrlich ist’s, mein süßes Leben,
Toll mit dir dahinzuschweben!
Schätzelein, gib einen Walzer zu,
keine kann tanzen wie du!«
    Es war widerwärtig. Der Kerl stank penetrant nach Parfum. Passanten waren stehengeblieben und sahen uns zu. Ich wollte mich losmachen, aber die hypnotische Kraft dieses Menschen zwang mich dazu, mich im Kreise zu drehen. Ich hörte, wie einige lachten, dann flog ein Schneeball und traf mich am Ohr. Es brannte. Endlich ließ er mich los, nahm den Koffer und ging mit raschen Schritten davon.
    Ich setzte mich auf eine verschneite Bank. Mir war zum Heulen zumute. Wenn ich heute daran denke, werde ich immer noch rot. Vielleicht liegt es daran, daß ich mich damals für Momente tatsächlich wie eine Frau gefühlt hatte.
    Ich raffte mich auf und folgte ihm heimlich. Von Straßenecke zu Straßenecke. Es war nicht schwer, da der Koffer ein gutes Erkennungsmerkmal abgab. Er ging zum Bahnhof, wie gestern Dick, verschwand in der Wartehalle. Ich beobachtete ihn durch ein Fenster. Er saß auf einer der Bahnsteigbänke und starrte auf seine Finger. Ein Zug hielt, und er stieg ein.
    Ich ging zurück zum Fluß und folgte ihm entlang der Straße, die Dick damals nach meiner Ankunft mit mir gefahren war. Mir war nach Familie zumute, nach Landsleuten, nach einem Rest von Weihnachtsstimmung, die man teilen muß, denn allein gibt es kein Weihnachten. Man muß wenigstens zu zweit sein. In weniger als einer halben Stunde erreichte ich den Weiler Am Weißen Berg.
    Die Läden am Haus waren heruntergelassen. Auf mein Klingeln rührte sich nichts. Aus dem Schornstein kräuselte sich jedoch eine gelbliche Rauchspirale. Es war also anzunehmen, daß jemand da war.
    »Dick«, rief ich. »Ich bin’s, Piet.« Am Nachbarhaus bewegte sich ein Vorhang. Dort jedenfalls hatte ich Aufmerksamkeit geweckt.
    Ich stieg über den Zaun und klopfte gegen den Laden, hinter dem ich Dicks Arbeitszimmer vermutete. Ich klopfte lang-kurz-lang-kurz, Pause, lang-lang-kurz-lang, oder genauer gesagt, stark-schwach-stark-schwach, Pause, stark-stark-schwach-stark, eine Art afrokubanischer Rhythmus, der jedem Funker vertraut ist als die Morsezeichenfolge »cq«. Sie bedeutet international »an alle« und wird einem Seenotruf vorangestellt. Ich wußte, daß Dick sein Funkerpatent gemacht hatte. Eine seiner Maßnahmen, um seinen Sumatratraum zu realisieren.
    Irgendwann kam Leben in die Lamellen des Rolladens. Er wurde ein Stückchen hochgezogen, so daß Schlitze zwischen den Latten entstanden. Und dann sah ich seine Augen.
    »Dick«, sagte ich. »Mach auf, laß mich rein. Ich will dir helfen.«
    »Hilf dir lieber selbst«, sagte er. Seine Stimme klang

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