Blinde Goettin
fünfzig Metern stürzte der Fremde in einen Eingang; Billy T war nur noch zehn Meter hinter ihm. Er erreichte das Tor eine Sekunde bevor es ins Schloß fiel. Die Holztür war schwer und groß und kostete Billy T. Zeit. Als er sie endlich geöffnet hatte, war der Mann nicht mehr zu sehen.
Er stürmte durch den Eingang, der in einen abgeschlossenen Hinterhof mündete. Der Hof war nicht sehr groß, vielleicht zehn Quadratmeter, und von drei Meter hohen Mauern umgeben. Eine der Mauern wirkte wie die Rückwand einer Garage oder eines Lagerhauses, ein schräges Blechdach ragte über den Rand. In der Ecke stand ein großer Blumenkasten; die zerzausten Reste der Blumenpracht lugten traurig aus dem Schnee. Ganz hinten erhob sich ein selbstgezimmertes Spalier. Es war kahl, die Ranken hatten kaum die unterste Querleiste erreicht. Ganz oben kletterte gerade ein Mann über die Mauer.
Billy T. durchquerte den Hof mit zehn Schritten. Er erwischte gerade noch einen Stiefel. Der Fliehende trat wild um sich, und der Absatz traf den Polizisten mit einem Knall an der Stirn. Trotzdem lockerte sich sein Griff nicht, er versuchte, weiter oben die Hose zu fassen zu bekommen. Er hatte Pech; gerade als er zupacken wollte, riß sich der andere mit aller Kraft los. Billy T. stand da, den Stiefel in der Hand, und kam sich ausgesprochen dämlich vor, als ein dumpfer Knall verriet, daß der andere jenseits der Mauer auf den Boden gesprungen war. Der Polizist brauchte drei Sekunden für die Mauer, aber der Fliehende hatte seine Zeit gut genutzt. Er hielt schon auf einen weiteren Eingang zu, der ihn zurück auf die Straße führen würde. Als er das bogenförmige Tor erreichte, drehte er sich zu Billy T. um. Er hielt eine Waffe in der rechten Hand und zielte auf den Polizisten.
»Polizei!« heulte Billy. »Hier ist die Polizei!«
Er blieb stehen. Und das war zuviel für seine Ledersohlen. Sie rutschen weiter. Der Riese machte fünf, sechs Tanzschritte, um sein Gleichgewicht wiederzufinden, und seine Windmühlenarme dirigierten ein Riesenorchester. Nichts half. Er stürzte rückwärts in den Schnee, und nur der verhinderte eine ernsthafte Verletzung. Immerhin trug Billy T.s Stolz einen Kratzer davon, und er fluchte verbissen, als er hörte, wie das Tor hinter dem Flüchtigen ins Schloß fiel.
Er stand auf und hatte sich gerade den Schnee abgewischt, als Hanne hinter ihm von der Mauer sprang.
»Idiot!« sagte sie bewundernd und vorwurfsvoll zugleich.
»Weshalb hättest du den Typen festnehmen können, wenn du ihn erwischt hättest?«
»Illegaler Waffenbesitz«, murmelte der kahlköpfige Polizist und klopfte den Schnee von seiner Jagdtrophäe, einem groben ledernen Herrenstiefel, Größe 44. Er blies zum Rückzug. Ziemlich vergrätzt.
MONTAG, 26. OKTOBER
Im Postfach im Vorzimmer lag ein ganzer Stapel von Klebezetteln. Hanne Wilhelmsen haßte telefonische Nachrichten. Sie war zu pflichtbewußt, um die Mitteilungen wegzuwerfen, aber sie wußte, daß mindestens die Hälfte der elf Anrufer nichts Wichtiges zu erzählen hatte. Der nervigste Teil ihrer Aufgabe war es, Fragen von außerhalb des Polizeigebäudes beantworten zu müssen: von ungeduldigen Opfern, die nicht einsahen, warum es über ein halbes Jahr dauerte, in einem Vergewaltigungsfall mit bekanntem Täter zu ermitteln; von auffahrenden Verteidigern, die über anklagerelevante Entscheidungen informiert werden wollten; von irgendwelchen Zeugen, die sich für wichtiger hielten, als die Polizei zu begreifen schien.
Zwei Zettel kamen von derselben Person. »Askhaug, Ullevål anrufen«, stand darauf, zusammen mit einer Telefonnummer. Besorgt dachte Hanne Wilhelmsen an die vielen Untersuchungen, die mit ihrem Kopf angestellt worden waren, und wählte diese Nummer. Askhaug war zur Stelle, auch wenn Hanne zunächst dreimal weitergereicht werden mußte, ehe sie die Dame an der Strippe hatte. Hanne stellte sich vor.
»Ja, schön, daß du anrufst«, zwitscherte die Frau am anderen Ende der Leitung. »Ich arbeite hier in der psychiatrischen Abteilung.«
Hanne atmete erleichtert auf. Es war also nicht ihr Kopf, der Probleme machte.
»Wir hatten hier einen Patienten, einen Untersuchungshäftling«, fuhr die Krankenschwester fort. »Ein Niederländer, glaube ich. Ich habe gehört, du seist für seinen Fall zuständig. Stimmt das?«
Das stimmte.
»Als er hier ankam, war er psychotisch, und wir haben ihm tagelang Psychopharmaka gegeben, ehe eine Besserung zu erkennen war«, erklärte die
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