Blinde Goettin
behauptete Hanne Wilhelmsen. »Wir wissen alle, daß die Gefängnisse von Rauschgift nur so überlaufen. Die Wärter zum Beispiel gehen frei aus und ein, ohne eine einzige Kontrolle; sie können sogar von draußen kommen und direkt in eine Zelle gehen, wenn sie wollen. Ziemlich unglaublich«, fügte sie nach einem Moment des Nachdenkens hinzu. »Ziemlich seltsam, daß alle Warenhausangestellten es hinnehmen müssen, durchsucht zu werden, nur damit Ladendiebstähle verhindert werden, während die Gefängnisangestellten sich nicht einmal Kontrollen wegen Rauschgift unterziehen müssen!«
»Gewerkschaften, Gewerkschaften, Gewerkschaften«, murmelte Kaldbakken.
»Außerdem muß Han van der Kerchs Gefängnisangst nicht unbedingt damit zusammenhängen. Vielleicht hat er Angst vor Leuten im Gefängnissystem«, fuhr Hanne Wilhelmsen fort, ohne sich von den gewerkschaftspolitischen Betrachtungen des Hauptkommissars anfechten zu lassen. »Mir kommt es unwahrscheinlich vor, daß Lavik das Risiko eingehen soll, mit einem Koffer voller Narkotika erwischt zu werden. Frøstrups Tod ist wohl eher ein Hinweis darauf, daß van der Kerchs Gefängnisangst berechtigt ist. Aber dieser Zettel hier ist Laviks Werk. Da bin ich sicher«, fügte sie hinzu und legte die Plastiktüte mit der unverdauten Warnung auf den Tisch.
Die Schrift war undeutlich und schwach, aber niemandem machte es Probleme, die Botschaft zu lesen.
»Das sieht aus wie ein mieser Scherz«, wagte der Rothaarige sich wieder vor. »Solche Zettel gehören in den Fernsehkrimi, nicht zu uns.« Er kicherte. Als einziger.
»Kann so eine Nachricht wirklich eine Psychose auslösen?« fragte Kaldbakken skeptisch. In dreißig Jahren hatte er so etwas noch nie erlebt.
»Ja, sie haben ihn wirklich damit um den Verstand gebracht«, sagte Hanne Wilhelmsen. »Es ging ihm ja ohnehin schon ziemlich schlecht. Der Zettel hat ihm den Rest gegeben. Übrigens geht es ihm inzwischen besser, er sitzt wieder in der Zelle. Na ja, besser ist vielleicht übertrieben, er hockt in einer Ecke und weigert sich, überhaupt etwas zu sagen. Soviel ich weiß, kommt auch Karen Borg nicht an ihn heran. Er gehört in ein Krankenhaus, wenn ihr mich fragt. Aber sowie einer sich an seinen Namen erinnern kann, wird er wieder dem Gefängniswesen aufs Auge gedrückt.«
Das wußten sie alle nur zu gut. Die Gefängnispsychiatrie war ein perpetuum mobile, hin und her, hin und her. Kein Häftling wurde je geheilt. Es wurde immer nur noch schlimmer.
»Wie wäre es, wenn wir Lavik um ein Gespräch bäten«, schlug Håkon Sand vor. »Wir gehen davon aus, daß er nicht nein sagt, und sehen dann, wie weit wir damit kommen. Vielleicht ist das das Blödeste, was wir überhaupt machen können. Aber andererseits: Hat irgend jemand einen besseren Vorschlag?«
»Was ist mit Peter Strup?« Zum erstenmal hatte der Abteilungsleiter das Wort ergriffen.
Hanne antwortete: »Bisher liegt gegen den nichts vor, auf meinem Zettel ist er nur ein großes Fragezeichen.«
»Leg ihn aber noch nicht ab«, riet der Chef und beendete die Besprechung. »Holt Lavik, aber um Himmels willen, versucht es im guten. Wir wollen nicht gleich die ganze Anwaltskammer am Hals haben. Jedenfalls noch nicht. Inzwischen machst du …« Er zeigte auf den Knaben mit der Stupsnase und ließ seinen Finger weiterhüpfen, »… und du und du die ganze Drecksarbeit. Kommt mit, dann kriegt ihr Aufgaben zugeteilt. Da muß sehr viel überprüft werden. Ich will alles über unsere beiden Anwälte wissen. Was sie zu Mittag essen und welches Deo sie benutzen. Politische Richtung und Frauengeschichten. Sucht vor allem nach Gemeinsamkeiten.«
Der Abteilungsleiter nahm den Rothaarigen und zwei weitere Burschen mit, die während der ganzen Besprechung die Klappe gehalten hatten. Das hatte ihnen auch nicht geholfen. Die Routinearbeit wurde immer den Jüngsten aufgedrückt.
Hanne Wilhelmsen und Håkon Sand verließen das Zimmer als letzte. Sie bemerkte, daß er trotz der Lage der Dinge froh und zufrieden wirkte.
»Mir geht es wirklich gut«, antwortete er auf ihre freundliche, überraschte Frage. »Mir geht es eigentlich verdammt gut.«
Håkon Sand quengelte so lange, bis er dabeisein durfte. Kommissarin Wilhelmsen stand dem alles andere als positiv gegenüber. Sein Patzer bei dem Verhör Han van der Kerchs war noch nicht vergessen.
»Ich kenne den Typen«, argumentierte er. »Vielleicht würde meine Anwesenheit ihn beruhigen. Du hast ja keine Ahnung, wie sehr die
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