Blinde Goettin
mehr.
Als sie das Zimmer betraten, hatte das fiese grüne Auge seinen gelben Kollegen wieder abgelöst. Das Gerät war in summenden Schlaf gesunken. Ein kleiner Papierstapel lag in dem Plastikkorb, der noch vor wenigen Minuten leer gewesen war. Mit einer Hand, die eher vor Müdigkeit zitterte als vor Spannung, nahm Håkon die Papiere auf und blätterte rasch zur letzten Seite.
Er ließ sich auf das kleine Sofa sinken und las vor: »Der Angeklagte Jørgen Ulf Lavik wird in Untersuchungshaft gehalten, bis Gericht oder Anklagebehörden eine andere Entscheidung treffen, jedoch keinesfalls länger als bis Montag, den 6. Dezember. Während dieser Zeit hat er Brief- und Besuchsverbot.«
»Zwei Wochen!« Eine solide Dosis Adrenalin hatte die Müdigkeit verjagt. »Zwei Wochen für Lavik!« Er sprang vom Sofa auf, stolperte um den kleinen Tisch herum und fiel Hanne um den Hals. Die Papiere fielen zu Boden.
»Reg dich ab«, lachte sie. »Zwei Wochen sind wirklich nur der halbe Sieg, du wolltest vier.«
»Zwei Wochen sind wenig, ja, aber wir können doch rund um die Uhr arbeiten. Und ich schwöre …« Er knallte die Faust auf den Tisch, ehe er weiterredete: »Ich wette um ein Monatsgehalt, daß wir in weniger als zwei Wochen mehr über diesen Arsch haben werden.«
Seine kindliche Begeisterung und sein Optimismus griffen nicht sofort auf seine Kollegin über. Sie sammelte die Papiere auf und legte sie in die richtige Reihenfolge. »Sehen wir, was der Richter sonst noch zu sagen hat.«
Bei näherem Hinsehen war der Haftbescheid nicht einmal mehr ein halber Sieg. Vielleicht konnte man ihn großzügig als Achtelsieg bezeichnen.
Christian Bloch-Hansens Einwänden gegen Karen Borgs Aussage war weitestgehend stattgegeben worden. Das Gericht teilte seine Auffassung, daß van der Kerchs Abschiedsbrief kaum als Entbindung von der Schweigepflicht betrachtet werden konnte. Die genaueren Absichten des Niederländers mußten noch untersucht werden, eine Untersuchung, bei der es genau zu überlegen galt, ob die sich dadurch ergebenden Erkenntnisse dem Mann nützen würden. Es bestand Grund zu der Annahme, daß das nicht der Fall sein würde, da die Aussage ihn in wesentlichem Grad selbst belastete und auf diese Weise seinem Ruf nachträglich schaden konnte. Auf jeden Fall, meinte das Gericht, auf jeden Fall sei man im Verhör von Anwältin Borg nicht ausreichend auf diese Problematik eingangen. Das Gericht zog es zum gegenwärtigen Zeitpunkt deshalb vor, ihre Aussage nicht in Betracht zu ziehen, da sie einen Verstoß gegen die Prozeßbestimmungen darstellen konnte. Des weiteren fand das Gericht, unter Vorbehalt, daß es dennoch triftige Gründe gab, den Angeklagten eines Verbrechens zu verdächtigen. Aber nur, was Posten 1 der Klageschrift betraf, die angegebene Menge, die bei Frøstrup gefunden worden war. Nach Auffassung des Gerichts bestand kein triftiger Grund, dem Anwalt noch mehr anzulasten, solange man Karen Borgs Aussage nicht einbeziehen konnte. Die Gefahr einer Beweisvernichtung lag auf der Hand; der Richter hatte sich damit begnügt, sie in einem Satz zu erwähnen. Eine Haft von zwei Wochen konnte zudem nicht als unverhältnismäßiger Übergriff gelten, wenn man die Tragweite des Falls in Betracht zog. Vierundzwanzig Gramm narkotischer Stoffe waren eine bedeutende Menge, die im Straßenverkauf einen Wert von fast zweihunderttausend Kronen darstellte. Ergebnis, wie gesagt, zwei Wochen Knast.
Roger kam frei.
»Ja, verdammt«, sagten die beiden wie aus einem Munde.
Roger war nur durch Han van der Kerchs Aussage in den Fall verwickelt. Solange die unbrauchbar war, hatte das Gericht nur die kodierten Telefonnummern. Und die reichten bei weitem nicht aus. Also mußte er entlassen werden.
Das Telefon schellte. Sie fuhren beide hoch, als sei soeben ein Feueralarm ausgelöst worden.
Es war der Richter, der sich davon überzeugen wollte, daß das Fax gut angekommen war. »Ich erwarte von beiden Seiten Einspruch«, sagte er müde, auch wenn Håkon glaubte, durch das Telefon ein leises Lächeln ahnen zu können.
»Ja, ich werde jedenfalls gegen Roger Strømsjords Freilassung Einspruch erheben und um Aufschub bitten. Es wäre eine Katastrophe, wenn er heute nacht noch rauskäme.«
»Aufschub kriegst du sicher«, beschwichtigte der Richter. »Aber jetzt machen wir Feierabend, ja?«
Da konnten sie ohne weiteres zustimmen. Es war ein langer, langer Tag gewesen. Sie zogen ihre Mäntel an, schlossen sorgfältig hinter sich ab und
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