Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blinde Goettin

Blinde Goettin

Titel: Blinde Goettin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
Vom Netzwerk:
sich wie eine stramme, schwarze Kapuze um seinen Schädel gelegt, und seine Augen fielen jedesmal wieder zu, wenn er zwei Minuten lang geredet hatte. Er zog eine kleine Medizinflasche mit künstlicher Tränenflüssigkeit aus der Jackentasche, lehnte sich zurück, schob die Brille an die Nasenspitze und träufelte sich reichlich in die Augen. Bald würde er die ganze Flasche geleert haben. Am Morgen war sie noch neu gewesen.
    Håkon Sand bewegte im Versuch, seine Nackenmuskeln zu lockern, seinen Kopf hin und her. Er zuckte zusammen, als er sich zu heftig bewegte und links ein wütender Krampf einsetzte. »Au, auau, au !« rief er und rieb fieberhaft die wehe Stelle.
    Zum siebenundsechzigstenmal sah Hanne auf die Uhr. Fünf Minuten vor Mitternacht. Ob es ein gutes oder schlechtes Zeichen war, daß es bis zur Entscheidung so lange dauerte, war unmöglich zu sagen. Der Richter würde sicher besonders sorgfältig vorgehen, wenn die Inhaftierung eines Anwalts anstand. Andererseits würde er auch mit einer Haftentlassung nicht schlampig verfahren. Daß Einspruch erhoben werden würde, egal, wie er entschied, lag ohnehin auf der Hand. Sie gähnte so herzhaft, daß ihre schmale Hand ihre Mundöffnung nicht bedecken konnte. Als sie den Kopf in den Nacken legte, sah Håkon, daß sie keine Amalgamfüllungen hatte.
    »Welche Erfahrung hast du mit diesen Plastikfüllungen gemacht?« fragte er unvermittelt, und sie starrte ihn überrascht an.
    »Plastikfüllungen? Wie meinst du das?«
    »Ich sehe doch, daß du kein Amalgam in den Zähnen hast. Ich hab’ auch schon überlegt, ob ich meine Füllungen auswechseln lassen soll. Hab’ in den Zeitungen gelesen, wieviel Dreck in dem Zeug steckt. Quecksilber und so. Davon sollen schon Leute zu Invaliden geworden sein. Aber mein Zahnarzt ist dagegen. Amalgam hält soviel besser, sagt er.«
    Mit weit geöffnetem Mund beugte sie sich zu ihm vor, und er sah, daß wirklich alles weiß war. »Nix Loch«, sagte sie lächelnd und mit einem Hauch von Stolz. »Ich bin zwar eigentlich schon zu alt für die Nix-Loch-Phase, aber wir hatten früher Brunnenwasser. Haufenweise natürliches Fluor. Sicher gefährlich, aber wir waren sechs Kinder in der Nachbarschaft, die alle erwachsen geworden sind, ohne je zum Zahnarzt zu müssen.«
    Zähne. Das war vielleicht ein Gesprächsthema. Wieder untersuchte der Polizeiadjutant das Faxgerät. Wie beim letzten- und beim vorletztenmal war alles in Ordnung. Das kleine grüne Licht starrte ihn arrogant an, aber sicherheitshalber sah er noch einmal nach. Ob genug Papier vorhanden war. Natürlich war da genug Papier. Er unterdrückte ein Gähnen, indem er die Zähne zusammenbiß. Tränen traten ihm in die Augen. Er nahm das abgegriffene Kartenspiel und warf Hanne einen fragenden Blick zu. Sie zuckte mit den Schultern.
    »Von mir aus gern, aber laß uns mal was anderes spielen. Maumau zum Beispiel.«
    Sie schafften zwei Runden, dann stieß das Faxgerät ein verheißungsvolles Knurren aus. Das Licht war von Grün auf Gelb umgesprungen, und nach wenigen Sekunden zog die Maschine den ersten Papierbogen ein. Er blieb eine Weile im Gerät, dann lugte er oben wieder heraus, hübsch geschmückt mit einem Faxvordruck des Osloer Untersuchungsgerichtes.
    Beide merkten, wie ihr Puls loshämmerte. Ein unangenehmes Kribbeln jagte Håkons Rücken hoch, und er schüttelte sich. »Nehmen wir ein Blatt nach dem anderen, oder warten wir, bis alles da ist?« fragte er mit schwachem Lächeln.
    »Wir holen uns eine Tasse Kaffee. Wenn wir zurückkommen, ist alles da. Das ist besser, als hier zu stehen und auf die letzte Seite zu warten.«
    Sie fühlten sich entsetzlich allein, als sie das Zimmer verließen und durch den Flur gingen. Beide schwiegen. Im Vorzimmer gab es keinen Kaffee mehr. Irgendwer mußte also doch noch Dienst schieben, denn Hanne hatte dort vor weniger als einer Stunde eine neue Kanne abgestellt. Håkon ging in sein Büro, öffnete das Fenster und zog eine Plastiktüte herein, die an einem Nagel an der Fensterbank gehangen hatte. Er holte zwei Halbliterflaschen Limonade aus der Tüte.
    »Garantiert die einzige Limo, die wirklich nur gegen den Durst hilft«, zitierte er mit Galgenhumor.
    Sie stießen in einem düsteren Prost die Flaschen gegeneinander. Håkon gab sich keine Mühe, ein lautes Rülpsen zu unterdrücken. Hanne war etwas leiser. Dann gingen sie zurück ins Besprechungszimmer. Sehr langsam. Es roch nach Bohnerwachs, und der Boden glänzte wie lange nicht

Weitere Kostenlose Bücher