Blinde Voegel
«Wie ist denn Ihr eigenes Verhältnis zu Gedichten?»
Die Frage überraschte Ribar sichtlich. «Mein Verhältnis zu – puh. Um ehrlich zu sein, ich habe nie viel damit am Hut gehabt. Ich bin wirklich nur in der Gruppe, um mehr über Pallauf herauszufinden.» Er hob die Arme und ließ sie wieder fallen. «Bisher ohne Erfolg.»
«Gut, Herr Ribar.» Das klickende Geräusch, mit dem Florin die Mine seines Kugelschreibers mehrmals hintereinander ausfahren und wieder einschnappen ließ, markierte das Ende des freundlichen Geplänkels.
«Wo waren Sie in der Nacht des zwölften September? Zwischen zweiundzwanzig und fünf Uhr?»
«Was?» Die Frage traf Ribar völlig überraschend, das war nicht zu übersehen. «Wieso denn ich?» Er sammelte sich. «Zu Hause. Ich gehe schon Ewigkeiten abends nicht mehr fort. Seit wir die Zwillinge haben, nur noch, wenn es beruflich nötig ist. Fragen Sie meine Frau.»
Die das selbstverständlich bestätigen würde. «Sind Sie Ihrer Frau wegen nach Salzburg gezogen?»
Irritiert sah Ribar hoch. «Tut das etwas zur Sache? Ja, sie ist von hier, und wir fanden beide, dass es ein guter Ort ist, um Kinder großzuziehen. Mir ist es nicht schwergefallen, Erfurt zu verlassen.»
Beatrice stand auf, zog eine ihrer Karten aus der Tasche und reichte sie dem Mann. «Danke, Herr Ribar. Ich möchte Sie bitten, sich bei uns zu melden, wenn Sie etwas Auffälliges bemerken sollten. Ich gehe davon aus, dass Sie Ihre eigenen Ermittlungen nicht aufgeben werden, richtig?»
«Ich …», er suchte nach Worten. «Ich verspreche Ihnen, dass ich ohne Ihr Okay über Pallauf im Zusammenhang mit der Lyrikgruppe keine Zeile schreiben werde. Im Ernst.»
Aber Sagmeister erwähnt er nicht, sehr clever. So kann er nur gewinnen – wenn wir sie jetzt ins Spiel bringen, weiß er, was Sache ist. Wenn nicht, ergreift er unter Umständen die Chance, der Selbstmordstory einen einzigartigen Dreh zu verpassen, sobald Iras Tod öffentlich wird …
«Schreiben Sie gar nicht über die Facebook-Gruppe. In keinem Zusammenhang, der Ihnen einfallen könnte, gut?»
«Ja. Natürlich.» Ribar begleitete sie bis zur Tür. «Meine Güte», murmelte er, «jetzt habe ich Ihnen gar keinen Kaffee angeboten. Entschuldigen Sie bitte, daran hätte ich denken müssen –»
Florin drehte auf dem Absatz um, sein Lächeln war so offen, dass man hätte glauben können, er habe Ribar wirklich ins Herz geschlossen. «Keine Sorge wegen des Kaffees. Aber es gibt etwas anderes, womit Sie uns einen großen Gefallen tun würden.» Er streckte die Hand aus. «Die Liste mit Pallaufs Passwörtern. Sie bekommen sie natürlich zurück, sobald der Fall abgeschlossen ist.»
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Kapitel zwölf
A m nächsten Tag fanden sie Iras Todesanzeige in der Zeitung, eingestellt von ihrem Vater. Es war ihm nicht zu verübeln, natürlich nicht, trotzdem wünschte sich Beatrice, dass er damit noch ein wenig gewartet hätte.
Die Bande der Liebe werden mit dem Tod nicht durchgeschnitten.
Thomas Mann
Fassungslos und voller Trauer gebe ich bekannt, dass meine geliebte Tochter
IRA SAGMEISTER
beschlossen hat, in eine für sie bessere Welt zu gehen.
Wer sie gekannt hat, weiß, was wir verloren haben.
Die Verabschiedung findet im engsten Familienkreis statt.
Wir beten für Ira am 27. September, 15 Uhr, in der Stadtpfarrkirche Oberndorf.
Johannes Sagmeister
im Namen aller Verwandten
Welche Verwandten, dachte Beatrice. Die Mutter war tot, Geschwister gab es nicht. Sie vermied es, sich vorzustellen, wie es in Sagmeister aussehen musste.
«Für ihn steht fest, dass Ira sich selbst getötet hat», meinte Florin nachdenklich. «Ich frage mich, wie lange wir ihren Tod wie einen Mordfall behandeln sollen. Nein, schon gut, ich weiß, was du sagen willst.» Er strich die Zeitung glatt und seufzte. «Zu viele Ungereimtheiten. Aber deshalb dürfen wir die offensichtlichen Dinge nicht ignorieren: Sie hat sich verabschiedet und ihren Selbstmord angekündigt, und zwar nicht aus heiterem Himmel, sondern nach Monaten der Depression.»
Beatrice griff zum Telefon. «Ich rufe jetzt Vogt an. Er müsste inzwischen neue Ergebnisse haben.»
«Sehr ungünstiger Zeitpunkt, Kaspary», bellte der Gerichtsmediziner ins Telefon.
«Dann fassen wir uns kurz. Können Sie mir etwas Neues über Ira Sagmeister erzählen?»
Sein Schnauben klang beinahe wie ein Lachen. «Ja, dass sie vor ihrem Tod Cannelloni mit Spinatfülle gegessen hat, und danach ein Snickers. Sie hat schlecht
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