Blinde Voegel
dafür. Und eigentlich, ermahnte sie sich selbst, ging sein Privatleben sie nicht das Geringste an, und es war ihre eigene Schuld, wenn sich die Autofahrt für sie zu einer doppelten Geduldsprobe auswuchs.
Die von Stefan recherchierte Adresse führte sie zu einem unauffälligen, aber gepflegten Mehrfamilienhaus in einer Wohnstraße. Die Eingangstür stand offen, ein Glücksfall, so konnte Ribar sie nicht an der Gegensprechanlage abwimmeln. Sie grüßten die Hausmeisterin, die gerade das Treppenhaus unter Seifenwasser setzte, und liefen in den zweiten Stock hinauf. Die Stimmen, die schon beim Betreten des Hauses nicht zu überhören gewesen waren, wurden mit jeder Stufe lauter: kleine Kinder, die ihrer Freude oder ihrem Missmut lautstark Ausdruck verliehen.
«Das wird ja ein entspanntes Gespräch», bemerkte Florin, als sie vor der Tür standen und klar war, dass das Geschrei dahinter seine Quelle hatte.
Sie klingelten, und eine schlanke, junge Frau öffnete ihnen, ein etwa einjähriges Kind auf dem Arm. Ein zweites klammerte sich an ihr Bein, das andere Ärmchen weit nach oben gestreckt und lautlos heulend.
«Wir möchten mit Herrn Ribar sprechen.» Beatrice hielt der Frau ihren Ausweis entgegen. «Tut uns leid, wenn wir ungelegen kommen, aber es ist wichtig.»
Die Frau nickte. «Boris?», rief sie über die Schulter, dann trat sie zur Seite, um für Beatrice und Florin den Weg frei zu machen. «Es ist ein bisschen chaotisch hier, aber wissen Sie, ich komme fast nicht zum Aufräumen, und wenn doch, ist alles in kürzester Zeit wieder wie vorher …»
«Kein Problem», erklärte Beatrice. «Zwillinge sind sicher eine besondere Herausforderung.»
Die Frau lächelte müde. «Stimmt. Und jetzt sind sie gerade vierzehn Monate und können beide laufen, das ist ziemlich … anstrengend.» Mit ihrer freien Hand öffnete sie die Tür zum Wohnzimmer. «Boris? Jemand von der Polizei will dich sprechen.»
Erwartungshaltungen waren etwas Merkwürdiges. Beatrice hatte sich nicht im Detail über Ribar informiert, sondern bis zu diesem Moment nur gewusst, wo er wohnte und dass er Journalist war. Die kleinen Kinder und die junge Frau hatten sie mit einem Mann Mitte dreißig rechnen lassen, doch Boris Ribar war eher Anfang fünfzig. Nun, da sie ihm gegenüberstand, wurde ihr klar, dass sie ihm schon früher begegnet war. Er war ein regelmäßiger Gast auf Pressekonferenzen, und sie glaubte, ihn auch schon als Gerichtsreporter gesehen zu haben – wenn sie ihn nicht verwechselte, was bei seinem durchschnittlichen Aussehen auch möglich war.
Als sie eintraten, stand er auf, mit dem unsicheren Blick in den Augen, den das Wort «Polizei» oft hervorrief.
«Guten Morgen. Ist etwas passiert?» Ribar hörte sich nicht an, als käme er aus Salzburg. Eher aus Frankfurt an der Oder.
Florin hob beruhigend die Hände. «Nein, keine Sorge. Wir möchten Ihnen allerdings ein paar Fragen stellen, die mit einem Fall zu tun haben, in dem wir aktuell ermitteln.»
Ribars Stirn legte sich in Falten. «Ein Fall? Da weiß ich aktuell leider von gar nichts.» Er streckte erst Beatrice, dann Florin die Hand entgegen. «Wir kennen uns vom Sehen, nicht wahr? Sie waren doch beide letzte Weihnachten auf der Pressekonferenz nach dem Axtmord an der Hausfrau aus Taxham, nicht? Und über Sie», er wandte sich an Florin, «habe ich erst im Mai geschrieben, nach der Aufklärung der Koordinaten-Morde. Herr …»
«Wenninger. Florin Wenninger, und das ist meine Kollegin, Beatrice Kaspary.»
«Wenninger, genau. Freut mich. Dann erinnere ich mich richtig, dass Sie in der Abteilung Leib und Leben beschäftigt sind, nicht?» Sein Blick weitete sich. «Womit kann ich Ihnen denn helfen? Geht es wieder um eine Mordsache?»
Beatrice ließ ihre Augen keine Sekunde von dem Journalisten. Das helle T-Shirt und die hoch geschnittenen Jeans betonten einen Bauch, der auf eine Vorliebe für Bier schließen ließ. Sein Haar war schütter und durchgehend grau meliert, das Gesicht trug Spuren von zu viel Sonne, wie bei den Bergführern, die Beatrice kannte. Beim Lächeln überzogen seine Wangen sich mit feinen Längsfalten. Doch die gespielte Ahnungslosigkeit kaufte sie ihm keine Sekunde lang ab. «Sie wissen genau, weswegen wir hier sind, Herr Ribar.»
Er sah sie an, dann schüttelte er langsam den Kopf. «Nein. Leider.»
Sie hielt ihm ein Blatt Papier unter die Nase, auf dem die Reaktionen auf Helen Crontalers Eröffnung dazu standen, was Pallauf sich selbst und Sarah
Weitere Kostenlose Bücher