Blinde Voegel
Beckendahl angetan hatte.
Ren Ate Wie furchtbar. Danke, dass du uns Bescheid gibst. Wisst ihr, ich frage mich dann immer, ob wir nicht hätten helfen können.
Ira Sagmeister Nein. Hättet ihr nicht.
Ren Ate Entschuldige bitte, Ira, aber woher willst du das wissen?
Christiane Zach Auch wenn es schrecklich ist, was er getan hat, so zünde ich doch in Gedanken eine Kerze für ihn an.
Boris Ribar Wirklich schlimm. Ich stelle meine Kerze neben die von Christiane.
Dominik Ehrmann Ich dachte es mir. Keine Überraschung, aber trotzdem entsetzlich. Ira, du solltest deine Worte vorsichtiger wählen, auch wenn du aufgewühlt bist.
Ira Sagmeister Stimmt, Dominik. Es tut mir leid.
Ribar las, stumm, und ließ sich Zeit mit dem Aufblicken. «Aha», sagte er nur, als er Beatrice das Blatt zurückgab.
«Sie haben sich in der Lyrik-Gruppe erst kurz nach Pallaufs Tod angemeldet, das haben wir nachgeprüft. Vor Ihrer virtuellen Kerzenanzünderei haben Sie nur ein einziges Posting kommentiert. Ich hoffe, Sie wollen uns jetzt nicht weismachen, Ihr plötzliches Interesse für Gedichte wäre Zufall.»
Ribars Frau – oder Lebensgefährtin – steckte kurz den Kopf herein. «Ich gehe mit den Kindern spazieren und einkaufen. Bis später!»
«Bis später, Schatz.»
Das Weiche, Liebevolle in seiner Stimme machte ihn Beatrice beinahe sympathisch. Aber wie war ein Mann jenseits der fünfzig, mit durchschnittlichem Aussehen und dem Einkommen eines freiberuflichen Lokalreporters, an eine so viel jüngere, hübsche Frau gekommen?
Sie verachtete sich sofort für den Gedanken. Bei anderen fand sie solche Feststellungen immer dumm und oberflächlich, in ihrem eigenen Kopf hatten sie gefälligst nichts zu suchen.
«Also», nahm sie den Faden wieder auf. «Was hat Sie dazu bewogen, ein Anhänger von ‹Lyrik lebt› zu werden?»
Ribar blickte erst zur Seite, dann auf seine Fingernägel. «Recherche ist Teil meines Jobs», sagte er leise.
«Sehr hellsichtig, gerade an dieser Stelle zu recherchieren. Wie sind Sie darauf gekommen?»
Endlich sah er Beatrice in die Augen. «Die Antwort wird Ihnen wahrscheinlich nicht gefallen.»
«Ich werde damit klarkommen.»
Er zog die Oberlippe zwischen die Zähne. Seufzte. «Sehen Sie, ich wollte eine ordentliche Story aus der Sache machen. Ein völlig unauffälliger Typ flippt plötzlich aus und tötet ein Mädchen und sich selbst. Auf die Fakten reduziert gibt das Stoff für höchstens eine Seite, aber mit ein paar saftigen Details …» Er unterbrach sich und warf Florin einen entschuldigenden Blick zu. «Pallaufs Adresse steht im Telefonbuch, und ich wollte erst mit den Nachbarn sprechen, doch dann habe ich entdeckt, dass es einen Mitbewohner gab. Sie haben ihn bestimmt schon verhört.»
Weder Florin noch Beatrice nickten. Sie ließen Ribar ins Leere laufen, meistens machte das die Leute nervös. Und nervös war gut.
«Martin Sachs?», hakte Ribar nach. «Sie müssen mit ihm gesprochen haben. Ich habe das auch getan, und es hat sich recht bald herausgestellt … aber hören Sie, Sie dürfen ihm deshalb keine Schwierigkeiten machen. Was ich Ihnen sage, muss unter uns bleiben.»
«Reden Sie weiter.»
Wieder wanderte seine Oberlippe zwischen die Zähne. Eine unschöne Angewohnheit. «Gut. Ich habe recht bald begriffen, dass er mir Informationen geben würde, wenn ich ihn dafür bezahle. Wir haben uns geeinigt, und er sagte, dass alles, was es über Gerald Pallauf zu wissen gebe, im Internet zu finden sei, denn dort habe er in Wahrheit gelebt. Und dann hat er mir das hier gegeben.»
Ribar stand auf, ging zu seinem Schreibtisch und holte ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor, das er Florin reichte. Der las und gab es an Beatrice weiter.
«Internetseiten? Und Passwörter. Ich verstehe.»
«Genau. Ich hatte also Zugang zu jedem von Pallaufs Accounts, und ich gebe ehrlich zu, dass ich auf etwas Spannendes gehofft habe. Irgendwelche Perversionen, Mitgliedschaft auf illegalen Seiten oder einen dieser Selbstmorddeals. Das wäre eine großartige Story gewesen.» Er sah hoch, entschuldigend. «Ja, ich weiß, das verstehen Sie nicht, aber ich habe zwei kleine Kinder und könnte einen Karriereschub wirklich gut gebrauchen. Jedenfalls war da nichts in dieser Richtung. Aber dann habe ich über die deutschen Medien den Namen des Mädchens erfahren, das Pallauf getötet hatte, und die war … wissen Sie das überhaupt? Doch, Sie wissen das. Natürlich. Die war auch in der Lyrik-Gruppe, also habe ich mich
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