Blinde Voegel
Stift flog über das Papier, sie musste sich sofort notieren, was ihr durch den Kopf ging, sonst würde sie die Hälfte vergessen. «Ich weiß nicht, wie es euch geht», sagte sie, «aber ich habe aufgehört, daran zu glauben, dass Ira Selbstmord begangen hat. Umso mehr, da der Pizzeriabesitzer uns ihren letzten Abend geschildert hat. Trotzdem: War sie bei der familiären Vorgeschichte besonders gefährdet?»
Kossar dachte nicht lange nach. «Ich würde das bejahen. Zumindest, wenn es der Mutter über weite Strecken sehr schlechtging. Nach allem, was ich weiß, hat Ira ihrer düsteren Stimmung immer wieder Ausdruck verliehen, nicht?»
Ja, allerdings. «Suicide Note, Part 1» kam ihr wieder in den Sinn, das Lied, das Ira ihr empfohlen hatte.
Would you look at me now?
Can you tell I’m a man?
With these scars on my wrists
To prove I’ll try again
Try to die again, try to live through this night
Try to die again …
Die Unterhaltung zwischen ihnen hatte im Chat stattgefunden, unsichtbar für die anderen Mitglieder der Gruppe – aber Iras melancholische, todesschwangere Gedichte von Benn über Falke bis hin zu Rilke hatten eine deutliche Sprache gesprochen. Wenn jemand, der so gestrickt war, sich schließlich das Leben nahm, reagierte die Umwelt zwar bestürzt, aber nicht sonderlich überrascht. Das wiederum waren perfekte Arbeitsbedingungen für jeden, der Ira lieber tot als lebendig sehen wollte. Nur – warum?
Beatrice zog einen Strich unter die erste Frage und widmete sich der zweiten. «Dulović. Klingt für mich wie ein Name serbischer oder kroatischer Herkunft. Haben wir es vielleicht mit einem Bekannten von Adina Sagmeister zu tun?»
Bechners Mundwinkel kräuselten sich. «Möglich. Aber etwas weit hergeholt. Mein Friseur heißt Vilotić und einer meiner besten Freunde Milinković mit Nachnamen. In unserem Land aus einem Familiennamen große Schlüsse ziehen zu wollen, ist gewagt.»
«Ihr Einwand ist sicher berechtigt, aber Dulović hatte auf dem Band einen deutlichen Akzent», entgegnete Beatrice. «Ich glaube nicht, dass er in Österreich geboren wurde. Wir sollten seinen Lebenslauf zumindest nachprüfen. Übernehmen Sie das? Danke.»
«Natürlich, wenn Sie das wollen.» Es klang beleidigt, wieder einmal. Weil sie beschlossen hatte, ihn weiterhin zu siezen? Beatrice blies ungeduldig die Backen auf. Dann sollte er eben schmollen. Sie fühlte sich mit einer gewissen Distanz zu Bechner eigentlich sehr wohl.
Florin informierte die anderen im Detail über das Gespräch mit dem Pizzeria-Geschäftsführer, und ihre Gedanken schweiften ab. Ein neues Ziel hätte Ira gehabt, so ihr Vater. Und dass man es in der Zeitung lesen würde, sobald es erreicht war. Wenn wenigstens ihr Computer auftauchen würde! Aber der war wie vom Erdboden verschluckt.
Beziehungsweise in den Händen, die Ira den entscheidenden Stoß versetzt hatten. Und natürlich werden diese Hände sich hüten, das Gerät mit dem Internet zu verbinden und sich orten zu lassen.
Sie musste ihre gesamte Konversation mit Ira noch einmal genau durchgehen. Ihre Facebook-Seite studieren, auch alles, was sie abseits der Lyrikgruppe geschrieben hatte. Das Bild so gut es ging vervollständigen.
«Beatrice?»
Sie bemerkte erst jetzt, dass aller Augen auf sie gerichtet waren. «Bringst du die anderen über die Online-Ermittlungen auf Letztstand?»
«Gerne.» Sie gab vor, ihre durcheinandergeratenen Notizen zu ordnen, um in Wahrheit ihre Gedanken zu sortieren.
«In der Facebook-Gruppe herrscht naturgemäß Aufruhr wegen Iras Tod. Die Gründerin, Helen Crontaler, hat über ihren Mann versucht, von uns Details zu erfahren, ganz allgemein zweifelt dort aber niemand daran, dass Ira Selbstmord begangen hat. Hauptsächlich werden Betroffenheitspostings abgesetzt, nur wenige sind schon wieder bereit, sich mit Lyrik zu beschäftigen.» Sie hielt eine ausgedruckte Seite hoch. «Ich habe unter dem Decknamen Tina Herbert ebenfalls ein Gedicht eingestellt, auf ähnliche Art, wie Ira Sagmeister das manchmal getan hat. Darauf ist prompt eine Reaktion erfolgt, die ich als auffällig bezeichnen würde, und zwar von einem gewissen Dominik Ehrmann.»
Sie hielt eine Vergrößerung seines Profilbilds hoch. «Wir wissen natürlich nicht, ob er wirklich so aussieht, aber Stefan hat sich schon mit den deutschen Behörden in Verbindung gesetzt, wir bekommen also hoffentlich bald Daten.» Beatrice legte das Foto zurück. «Er will zu Sagmeisters Trauerfeier nach Salzburg
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