Blinde Voegel
der sich mit Gedichtinterpretation auseinandersetzt?»
«Ja. Auch das ist nicht auszuschließen.»
Beatrice zog sich den Besucherstuhl heran, setzte sich und griff nach Block und Schreibstift. Richtete sich die Aggression des Täters – und es gab einen Täter, davon war sie mit jedem Tag überzeugter – gegen Peter Crontaler? Dann ergäbe es auch Sinn, dass die Opfer aus den Reihen der Gruppenmitglieder rekrutiert wurden.
Nur: Warum war dann Gerald Pallauf bisher der einzige Germanist in der Liste? Wäre es, wenn indirekt Crontaler getroffen werden sollte, nicht logischer, seine Studenten zu töten?
Frustrierend, das alles. Sie warf den Stift zurück auf den Schreibtisch. «Lasst uns mit der Besprechung anfangen. Und hoffen, dass Stefan und Bechner etwas Neues in petto haben.»
«Ich hätte noch eine Bitte.» Kossar rückte seine Brille zurecht. «All diese Gedichte – gibt es die in gesammelter Form? Ich würde mir gern einen Gesamteindruck verschaffen, vielleicht finde ich ein psychologisches Muster, das uns weiterhilft.»
Beatrice reichte ihm die Mappe, in der sie die ausgedruckten Postings von Pallauf, Beckendahl und Sagmeister abgelegt hatte. «Bitte sehr. Ich wäre sehr froh, wenn endlich jemand daraus schlau werden würde.»
Das Besprechungszimmer wirkte durch Hoffmanns Abwesenheit heller. Vogt hatte sich bereits eingefunden und aß ein Gurkensandwich, während Stefan mit geschlossenen Augen und entspannten Zügen am Fensterbrett lehnte und sein Gesicht in die einfallende Sonne hielt. Nur Bechner trommelte mit den Fingern ungeduldige Rhythmen auf die Tischplatte.
«Fangen wir gleich an», schlug Florin vor. «Wer hat etwas Neues zu berichten?»
Vogt hob sein Sandwich. «Ich. Und ich kann es kurz machen. Ich habe jetzt alle Testergebnisse zu Dulović vorliegen, und es zeigt sich, dass einige seiner Verletzungen prämortal zugefügt worden sind. Im Bereich der Knie und des Rückens. Stumpfe Traumata, nicht bedrohlich, aber doch so, dass es nicht übel gewesen wäre, sie behandeln zu lassen.»
«Das würde die Aussage des Barbesitzers bestätigen.» Florin nickte Stefan zu. «Dass Dulović, als er ihn das letzte Mal gesehen hat, gehinkt haben soll.»
«Ja, das glaub ich gerne», warf Vogt ein. «Beachtlich, dass er noch rumgelaufen und nicht im Bett geblieben ist.» Er setzte zu einem weiteren Biss von seinem Sandwich an, überlegte es sich dann aber zugunsten einer zusätzlichen Erklärung anders. Florin biss sich auf die Lippen, bevor er hochsah. «Also kein Mord an Dulović?»
«Wenn er geschubst wurde, dann sanft.»
«Okay. Stefan?»
Der sprang auf und rückte sich eine imaginäre Krawatte zurecht. «Ich habe mich ein wenig mit Ira Sagmeisters Familienverhältnissen beschäftigt und mit dem Exfreund gesprochen, Tobias Eilert. Er sagt, die Stimmung in der Familie war immer schon sehr trist, und er habe sich Mühe gegeben, Ira so gut wie möglich dort rauszuholen. Er ist ziemlich fertig wegen ihres Todes und denkt, wenn sie ihn nicht verlassen hätte, wäre sie noch am Leben.» Stefan sah in die Runde. «Als Nächstes habe ich die Mutter genauer unter die Lupe genommen. Sie hat ja nachweislich Selbstmord begangen. Es sieht so aus, so als gäbe es dafür einen plausiblen Grund: Sie war ein Kriegsflüchtling. Ihr Mädchenname war …», Stefan fuhr mit dem Finger seine Notizen entlang, «Stjevo. Adina Stjevo. Sie ist Anfang 1992 aus Jugoslawien nach Österreich geflohen, da war sie achtundzwanzig. Hat hier innerhalb von wenigen Wochen Dietmar Sagmeister kennengelernt und ihn kurz darauf geheiratet. Damit war ihre Staatsbürgerschaft kein Thema mehr. Im Herbst 1992 ist Ira zur Welt gekommen.» Schwungvoll deutete Stefan auf Kossar, der gerade mit dem Fingernagel zwischen den Zähnen herumstocherte und blitzartig die Hand sinken ließ, als sich ihm die Blicke zuwandten.
«Ich habe mich schlaugemacht», fuhr Stefan fort, «und Dr. Kossar hat meine Ergebnisse bestätigt. Kriegstraumata können noch Jahrzehnte später verheerende Folgen haben, wenn sie nicht gründlich psychologisch aufgearbeitet werden. Die Überlebenden leiden häufig unter Schuldgefühlen, Angststörungen, Depressionen. Das wäre also eine plausible Erklärung für Adina Sagmeisters Suizid.»
Kossar nickte. «Gerade Schuldgefühle sind oft teuflisch. Die Überlebenden nehmen es sich selbst übel, davongekommen zu sein, während Freunde und Verwandte getötet wurden.»
Das warf ein ganz neues Licht auf Iras Leben. Beatrices
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