Blinde Weide, Schlafende Frau
zwanzig Sekunden noch einmal läuten wollte, ging die Tür plötzlich nach innen auf, und ein zierlicher älterer Herr erschien. Er mochte gut zehn Zentimeter kleiner sein als sie. Er trug einen dunklen Anzug, und von seinem weißen Hemd hob sich eine Krawatte in der Farbe welker Blätter ab. Alles an ihm wirkte makellos rein und faltenlos. Sein weißes Haar war sorgfältig gekämmt, und er sah aus, als sei er auf dem Weg zu einer Abendgesellschaft. Die tiefen Furchen in seiner Stirn erinnerten sie an tiefe Schluchten, wie man sie auf Luftaufnahmen sieht.
»Ich bringe Ihnen Ihr Essen«, sagte sie mit rauer Stimme und räusperte sich noch einmal leise. Immer wenn sie aufgeregt war, klang ihre Stimme heiser.
»Das Essen?«
»Ja, der Geschäftsführer ist plötzlich erkrankt. Darum bringe ich Ihnen heute Ihr Abendessen.«
»Aha«, sagte der Alte wie zu sich selbst, die Hand noch auf dem Türknauf. »Er ist also krank.«
»Ja, er bekam plötzlich Bauchschmerzen und ist ins Krankenhaus gefahren. Vielleicht eine Blinddarmentzündung, hat er gesagt.«
»Das ist aber nicht gut«, sagte der alte Mann und strich sich sacht über die faltige Stirn. »Gar nicht gut.«
Abermals räusperte sie sich. »Darf ich das Essen hineinbringen?«
»Ja, selbstverständlich«, sagte der Alte. »Natürlich. Mir ist es recht. Wie Sie wünschen.«
Wie ich wünsche ?, dachte sie. Eine seltsame Ausdrucksweise. Was habe ich denn zu wünschen?
Der alte Mann riss die Tür weit auf, und sie schob den Servierwagen ins Zimmer. Der Boden war mit einem kurzen grauen Teppichboden ausgelegt, und sie trat ein, ohne sich die Schuhe auszuziehen. Der Raum wirkte wie ein großes Büro, das er eher zum Arbeiten als zum Wohnen zu benutzen schien. Durch das Fenster, vor dem ein großer Schreibtisch stand, sah man direkt auf den nahe gelegenen, hell erleuchteten Tokyo-Tower. Neben dem Schreibtisch war eine kleine Couchgarnitur. Der alte Mann deutete auf den länglichen, mit Kunststoff beschichteten Couchtisch davor, auf den sie nun eine weiße Stoffserviette und Besteck legte und die Kaffeekanne, die Tasse, den Wein und das Weinglas, Brot und Butter und den Teller mit Gemüse und Brathühnchen stellte.
»Würden Sie, wenn Sie fertig sind, das Geschirr wie üblich in den Gang stellen? Ich komme in etwa einer Stunde und hole es«, sagte sie.
Aufmerksam musterte der alte Herr die aufgereihten Speisen.
»Ja, aber natürlich. In den Gang. Auf dem Wagen. In einer Stunde. Wie Sie wünschen«, antwortete er geistesabwesend.
Genau, so wünsche ich es, dachte sie diesmal. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
»Nein, danke«, sagte er nach kurzem Nachdenken. Er trug schwarze, blitzblank polierte Lederschuhe. Sie waren klein und sehr elegant. Ihr fiel auf, wie viel Wert er auf Kleidung legte. Außerdem hielt er sich für sein Alter sehr gerade.
»Dann gehe ich jetzt wieder an die Arbeit.«
»Warten Sie noch einen Augenblick«, sagte er.
»Ja?«
»Würden Sie mir fünf Minuten Ihrer Zeit schenken, gnädiges Fräulein? Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten.«
Gnädiges Fräulein? Unwillkürlich errötete sie.
»Ja, das wird schon gehen … wenn es nur fünf Minuten sind.«
Immerhin bezahlte er ihren Stundenlohn, also konnte von Schenken keine Rede sein. Außerdem erweckte der alte Herr nicht den Eindruck, als hätte er etwas Ungebührliches im Sinn.
»Übrigens, wie alt sind Sie?«, fragte er und sah ihr in die Augen, während er mit verschränkten Armen neben dem Schreibtisch stand.
»Ich bin zwanzig geworden.«
» Geworden? «, wiederholte der Alte und kniff die Augen zusammen, als versuche er durch einen schmalen Spalt zu spähen. » Geworden heißt gerade erst, nicht wahr?«
»Ja, gerade erst.« Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Eigentlich habe ich sogar heute Geburtstag.«
»Aha«, sagte der alte Herr, als bestätige sie eine von ihm längst gehegte Vermutung, und rieb sich das Kinn. »So ist das also. Heute ist Ihr zwanzigster Geburtstag.«
Sie nickte.
»Genau heute vor zwanzig Jahren sind Sie auf die Welt gekommen.«
»So ist es.«
»Sieh mal einer an«, sagte der Alte. »Wunderbar. Herzlichen Glückwunsch.«
»Vielen Dank.« Da ging ihr auf, dass er der Erste war, der ihr heute gratulierte. Andererseits fand sie, wenn sie nach Hause kam, bestimmt auch Glückwünsche von ihren Eltern auf dem Anrufbeantworter vor.
»Ich wünsche Ihnen alles Gute. Wollen wir nicht mit einem Schluck Rotwein auf Ihr Wohl anstoßen, gnädiges
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