Blinde Weide, Schlafende Frau
Verhältnis zu seinen Eltern war sehr gespannt, doch alles in allem war es gut so. Sich das ganze Leben in einem Schrank zu verstecken entsprach nicht seinem Wesen.
Am schmerzlichsten war jedoch für ihn die Reaktion seiner zwei Jahre älteren Schwester, die ihm sehr nahe stand. Als die Eltern ihres Verlobten erfuhren, dass ihr Bruder homosexuell war, hätten sie fast die Hochzeit abgeblasen. Am Ende ließen sie sich zwar doch noch beschwichtigen und die Heirat fand statt, aber seine Schwester war wegen der ganzen Aufregung einem Nervenzusammenbruch nahe und sehr wütend auf ihn. »Warum musste das ausgerechnet jetzt sein?«, schrie sie ihn an. Er verteidigte sich natürlich, aber ihr Verhältnis wurde nie mehr so eng, wie es gewesen war. Er ging nicht einmal zu ihrer Hochzeit.
Im Großen und Ganzen war er mit seinem Leben als allein lebender schwuler Mann recht zufrieden. Abgesehen von Leuten, die sich physisch von Homosexuellen abgestoßen fühlen, mochten ihn die meisten Menschen, denn er war stets gut gekleidet, gutmütig und höflich, hatte Sinn für Humor und ein gewinnendes Lächeln. In seinem Beruf war er kompetent und hatte demzufolge viele Kunden und ein geregeltes Einkommen. Einige berühmte Pianisten bestanden sogar darauf, ihre Instrumente ausschließlich von ihm stimmen zu lassen. Die Dreizimmerwohnung, die er sich in der Nähe eines Universitätsgeländes gekauft hatte, war schon so gut wie abbezahlt. Er besaß eine teure Stereoanlage, lebte hauptsächlich von Naturkost und hielt sich in Form, indem er fünf Mal in der Woche in einem Fitness-Studio trainierte. Nach mehreren Begegnungen mit verschiedenen Männern lernte er seinen jetzigen Partner kennen und führte seit zehn Jahren eine glückliche Beziehung mit ihm.
An jedem Dienstag fuhr er mit seinem grünen Honda Cabriolet in die Präfektur Kanagawa auf der anderen Seite des Tamagawa zu einem Outlet Shopping Center mit Markenläden wie The Gap, Toys-R-Us, The Body Shop und so fort. An Wochenenden war es dort sehr voll, sodass man kaum einen Parkplatz fand, aber während der Woche war es zumindest an Vormittagen beinahe menschenleer. Er ging in den großen Buchladen, kaufte sich ein Buch, das ihm ins Auge gefallen war, setzte sich damit in das angeschlossene Café, trank Kaffee und las.
»Das Shopping Center ist natürlich grässlich, aber dieses Café ist verblüffend angenehm«, erzählte er mir. »Ich habe es ganz zufällig entdeckt. Es gibt keine Musikberieselung, es darf nicht geraucht werden, und die Stühle sind ideal zum Lesen, nicht zu hart und nicht zu weich. Außerdem ist es immer leer. Wahrscheinlich gibt es nicht viele Leute, die an einem Dienstagmorgen ins Café gehen, und wenn doch, dann wahrscheinlich ins nächste Starbucks.«
Jeden Dienstagvormittag saß er also von kurz nach zehn bis gegen eins in seine Lektüre vertieft in diesem kaum besuchten Café. Um eins ging er in ein Restaurant in der Nähe und aß Thunfischsalat und trank ein Perrier. Anschließend fuhr er in sein Fitness-Studio, um ins Schwitzen zu kommen. Auf diese Weise verbrachte er regelmäßig seine Dienstage.
Auch an jenem Dienstag saß er in dem fast leeren Café und las. Bleak House von Charles Dickens. Er hatte das Buch vor langer Zeit gelesen, und als er es in einem Regal entdeckte, bekam er Lust, es noch einmal zu tun. Er wusste noch genau, dass die Geschichte spannend war, konnte sich jedoch partout nicht mehr an die Handlung erinnern. Dickens war einer seiner Lieblingsschriftsteller, denn er lässt seine Leser die Welt vergessen. Wie erwartet fesselte ihn das Buch von der ersten Seite an.
Nachdem er eine Stunde konzentriert gelesen hatte, wurde er ein wenig müde. Er klappte sein Buch zu, legte es auf den Tisch, rief die Bedienung und bestellte noch einen Kaffee, bevor er auf die Toilette vor dem Café ging. Als er zurückkam, sprach ihn eine Dame an, die am Nebentisch saß und ebenfalls gelesen hatte.
»Entschuldigen Sie, dürfte ich Sie etwas fragen?«
Er sah sie mit einem unverbindlichen Lächeln an. Sie war ungefähr seines Alters.
»Ja bitte, natürlich.«
»Es ist vielleicht unhöflich, Sie einfach so anzusprechen, aber etwas beschäftigt mich schon die ganze Zeit«, sagte sie und errötete ein bisschen.
»Nur heraus damit«, sagte er. »Ich bin nicht in Eile.«
»Das Buch, das Sie gerade lesen, ist das von Dickens?«
»Ja, genau.« Er nahm sein Buch und zeigte es ihr. » Bleak House von Charles Dickens.«
»Also doch«, sagte sie wie
Weitere Kostenlose Bücher