Blinde Weide, Schlafende Frau
erlöst. »Ich hatte einen Blick auf den Umschlag geworfen und dachte es mir.«
»Gefällt es Ihnen auch so gut?«
»Ja, sehr. Aber was für ein Zufall! Da sitze ich direkt neben Ihnen und lese die ganze Zeit das gleiche Buch.« Sie nahm ihr Buch aus dem Schutzumschlag und zeigte es ihm.
Ein erstaunlicher Zufall, allerdings. Man stelle sich vor – an einem Wochentag sitzen in einem leeren Café in einem leeren Shopping Center zwei Menschen und lesen das gleiche Buch. Und dabei handelt es sich nicht einmal um einen Weltbestseller, sondern um Charles Dickens. Und um keines seiner bekannteren Bücher. Dieses seltsame Zusammentreffen verblüffte die beiden so sehr, dass nicht einmal die Verlegenheit einer ersten Begegnung zwischen ihnen aufkam.
Sie wohnte in einer Neubausiedlung in der Nähe des Einkaufszentrums. Sie hatte Bleak House fünf Tage zuvor in der Buchhandlung dort gekauft, und als sie sich in dieses Café setzte, um einen Tee zu trinken, konnte sie es nicht mehr aus der Hand legen. Im Nu waren zwei Stunden vergangen. Seit ihrem Studium hatte sie kein Buch mehr so gefesselt. Und weil ihr das Café so gut gefallen hatte, war sie wieder hergekommen, um weiterzulesen.
Sie war klein und zierlich, nicht dick, hatte aber ein paar Pfunde an den üblichen Stellen angesetzt. Sie hatte einen vollen Busen und ein hübsches Gesicht. Sie war geschmackvoll und nicht ganz billig gekleidet. Im Laufe der Unterhaltung stellte sich heraus, dass sie Mitglied in einem Literaturzirkel war und Bleak House zufällig das Buch des Monats war. Eine der Damen des Zirkels war eine begeisterte Dickens-Leserin und hatte diesen Roman als nächste Lektüre vorgeschlagen. Die Frau im Café hatte zwei Kinder (zwei Mädchen, eins in der ersten und eins in der dritten Klasse) und fand normalerweise kaum die Zeit zu lesen, doch manchmal schaffte sie es wie jetzt gerade, sich ein Stündchen abzuzwacken. Die meisten ihrer Bekannten waren Mütter von Klassenkameraden ihrer Kinder, und die Gespräche mit ihnen beschränkten sich auf Fernsehserien und Klatsch über die Lehrer. Aus diesem Grund hatte sie sich dem Literaturzirkel angeschlossen. Ihr Mann las ebenfalls sehr gern, aber sein Beruf nahm ihn mittlerweile so sehr in Anspruch, dass er von Glück sagen konnte, wenn er hin und wieder einen Blick in ein Fachbuch werfen konnte.
Mein Freund erzählte der Frau auch ein wenig von sich. Dass er als Klavierstimmer arbeitete, auf der anderen Seite des Tamagawa wohnte und ledig war. Ihm gefalle dieses kleine Café so sehr, dass er einmal in der Woche eigens herfahre, um hier zu lesen. Dass er schwul war, erwähnte er nicht. Er verschwieg es ihr nicht absichtlich, aber so etwas erzählt man eben nicht jedem.
Später aßen sie in einem Restaurant im Einkaufszentrum gemeinsam zu Mittag. Die Frau war eine sehr offene, aufrichtige Person. Als sie ihre anfängliche Nervosität überwunden hatte, lachte sie viel. Ihr Lachen war nicht zu laut und sehr natürlich. Ohne dass sie ihm ihr Leben in allen Einzelheiten schilderte, konnte er es sich gut vorstellen. Sie war die behütete Tochter einer verhältnismäßig wohlhabenden Familie in Setagaya, hatte erfolgreich eine gute Universität besucht, wo sie beliebt war (beliebter vielleicht bei den Mädchen als bei den Jungen). Dann hatte sie einen drei Jahre älteren Mann mit einem guten Einkommen geheiratet und zwei Töchter bekommen. Ihre zwölf Ehejahre waren nicht gerade der Himmel auf Erden gewesen, aber besondere Probleme gab es auch nicht. Bei einem leichten Lunch plauderten sie über die Bücher, die sie letzthin gelesen hatten, und über die Musik, die sie mochten.
»Das hat mir Freude gemacht«, sagte die Frau nach etwa einer Stunde und errötete. »Ich habe niemanden, mit dem ich mich unterhalten kann.«
»Mir hat es auch Freude gemacht«, sagte er. Und es war nicht gelogen.
Als er am folgenden Dienstag im selben Café saß und im selben Buch las, kam auch sie wieder. Lächelnd nickten sie einander zu. Sie setzte sich an einen anderen Tisch, und beide vertieften sich in die Lektüre von Bleak House . Kurz vor zwölf kam sie zu ihm hinüber, um zu fragen, ob sie wieder zusammen zu Mittag essen wollten.
»Ich kenne ein hübsches französisches Restaurant ganz in der Nähe«, schlug sie vor. »Vielleicht haben Sie Lust, dorthin zu gehen. Hier im Einkaufszentrum ist die Auswahl ja nicht so besonders.«
Er war einverstanden, und sie fuhren in ihrem Wagen (einem blauen Peugeot 306 Automatik) in das
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