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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ich nicht einmal sagen, dass ich die Existenz solcher Dinge völlig ausschließe. Von mir aus könnte es sie ruhig geben, nur ich persönlich finde keinen Gefallen daran. Dennoch kann ich nicht leugnen, dass nicht wenige absonderliche und seltsame Phänomene meinem eintönigen Leben hin und wieder etwas Farbe verliehen haben.

    Die folgende Geschichte hat mir ein Bekannter anvertraut, nachdem ich ihm diese beiden Episoden erzählt hatte. Er machte ein nachdenkliches, ernstes Gesicht und sagte: »Ehrlich gesagt, mir ist so etwas auch schon passiert, eine Kette von Ereignissen, herbeigeführt durch einen Zufall. Es war nicht gerade unbegreiflich, aber richtig erklären konnte ich es mir auch nicht.«
    Zum Schutz der beteiligten Personen habe ich einige Fakten verändert, aber ansonsten gebe ich die Geschichte so wieder, wie er sie erzählt hat.

    Mein Bekannter ist Klavierstimmer von Beruf. Er lebt im westlichen Teil von Tokyo in der Nähe des Tamagawa. Er ist einundvierzig und schwul. Er macht keinen Hehl aus seiner Homosexualität und hat einen drei Jahre jüngeren Freund, der als Makler arbeitet und sich daher nicht outen kann; die beiden leben also getrennt. Mein Freund hat es zwar nur zum Klavierstimmer gebracht, aber er hat eine Musikakademie besucht und ist selbst ein hervorragender Pianist. Seine Spezialität sind französische Komponisten wie Debussy, Ravel und Eric Satie, die er mit tiefem Ausdruck spielt. Am liebsten hat er jedoch Francis Poulenc.
    »Poulenc war schwul«, erklärte er mir eines Tages. »Und hat nie versucht, es zu verbergen, was damals ganz schön schwer war. ›Ohne meine Homosexualität wäre meine Musik nie entstanden‹, soll er gesagt haben. Ich verstehe genau, was er damit meinte. Er musste seiner Homosexualität ebenso treu sein wie seiner Musik. So ist das Leben, und so ist die Musik.«
    Auch ich habe Poulenc immer geliebt. Sooft mein Freund vorbeikommt, um mein altes Klavier zu stimmen, bitte ich ihn, wenn er mit seiner Arbeit fertig ist, ein paar kurze Stücke von Poulenc zu spielen. »Die Französische Suite« oder das »Pastorale«.
    Dass er schwul war, »entdeckte« er, als er auf die Musikakademie kam. Bis dahin war ihm nicht einmal die Möglichkeit in den Sinn gekommen. Da er gut aussah, wohlerzogen war und Charme hatte, war er an der Oberschule bei den Mädchen sehr beliebt. Er hatte nie eine feste Freundin, traf sich aber gern mit Mädchen, denn er fühlte sich in ihrer Nähe wohl. Er mochte es, ihre Frisuren zu begutachten, den Duft an ihren Nacken zu riechen oder ihre kleinen Hände zu halten. Aber er hatte nie Sex mit einer von ihnen. Nach mehreren Verabredungen spürte er immer eine Erwartungshaltung bei ihnen. Sie wollten, dass er die Initiative ergriff, aber er konnte diesen Schritt nie tun. Er verspürte keinerlei Drang dazu. Alle jungen Männer in seinem Umfeld befanden sich in den Klauen des Dämons Sexualität, einige kämpften gegen ihn an, andere gaben ihm nach. Ihm hingegen war dieses Gebeuteltsein von Trieben völlig fremd, und er hielt sich für einen Spätentwickler. Vielleicht war er auch einfach noch nicht dem richtigen Mädchen begegnet.
    An der Akademie lernte er ein gleichaltriges Mädchen kennen, das Schlagzeug studierte. Sie redeten gern miteinander und hatten auch sonst viele Gemeinsamkeiten. Nicht lange nachdem sie sich kennen gelernt hatten, schliefen sie auf ihrem Zimmer zusammen. Sie war es, die die Initiative ergriff. Ein bisschen Alkohol war auch im Spiel. Der Sex ging ohne Hindernis vonstatten, obwohl mein Freund die ganze Sache nicht halb so aufregend und befriedigend fand, wie alle sagten, sondern im Gegenteil derb und fast grotesk. Auch den seltsamen Geruch, den das Mädchen verströmte, wenn es sexuell erregt war, mochte er nicht. Viel lieber, als mit ihr zu schlafen, unterhielt er sich mit ihr, machte Musik oder aß mit ihr zusammen. Mit der Zeit empfand er die sexuelle Seite ihrer Beziehung sogar als Belastung.
    Noch immer hielt er sich in dieser Hinsicht für zurückgeblieben. Doch eines Tages … nein, das lasse ich lieber weg. Es würde zu lange dauern und hat nicht unmittelbar mit unserer Geschichte zu tun. Jedenfalls passierte etwas, wodurch ihm unwiderruflich klar wurde, dass er homosexuell war. Da es ihm zu dumm war, eine Ausrede zu erfinden, erzählte er seiner Freundin ganz offen, was los war. Eine Woche später wussten es fast alle, und schließlich bekam auch seine Familie Wind davon. Er verlor einige seiner Freunde, und das

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