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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Ehepaar mittleren Alters stieg aus. Sie stritten sich über irgendeine Belanglosigkeit. Als sie fort waren, kehrte wieder Stille ein. Sie hatte die Augen geschlossen.
    »Ich bin in keiner Position, Ratschläge zu erteilen«, sagte er. »Aber ich habe eine Regel, die ich befolge, wenn ich nicht mehr weiß, was ich tun soll.«
    »Was für eine Regel?«
    »Wenn du dich zwischen etwas, das eine Form hat, und etwas Formlosem entscheiden musst, entscheide dich für das Formlose. Das ist meine Regel. Immer wenn ich mit dem Rücken zur Wand stehe, befolge ich sie, und sie funktioniert jedes Mal. Auch wenn es mitunter schwer ist.«
    »Haben Sie diese Regel selbst gefunden?«
    »Ja«, sagte er und betrachtete das Armaturenbrett des Peugeot. »Sie ist aus meiner Lebenserfahrung entstanden.«
    »Wenn du dich zwischen etwas, das eine Form hat, und etwas Formlosem entscheiden musst, entscheide dich für das Formlose«, wiederholte sie.
    »Genau.«
    Sie dachte nach. »Aber ich wüsste jetzt gar nicht, was eine Form hat und was nicht.«
    »Mag sein. Aber irgendwann müssen Sie diese Entscheidung treffen.«
    »Woher wissen Sie das?«
    Er nickte ruhig. »Ein Schwulenveteran wie ich weiß über alles Mögliche Bescheid.«
    Sie lachte. »Danke.«
    Ein langes Schweigen folgte. Aber es war nicht mehr so steif und belastend wie vorher.
    »Auf Wiedersehen«, sagte die Frau. »Vielen Dank für alles. Ich bin so froh, dass ich Ihnen begegnet bin und mit Ihnen reden konnte. Ich glaube, ich habe jetzt wieder etwas Mut gefasst.«
    Er lächelte und drückte ihre Hand. »Machen Sie’s gut.«
    Er sah ihrem blauen Peugeot nach und winkte noch einmal in ihren Rückspiegel. Dann ging er langsam zu seinem Honda.

    Am nächsten Dienstag regnete es. Die Frau kam nicht. Er las bis eins und ging.
    Der Klavierstimmer beschloss, an diesem Tag nicht ins Fitness-Studio zu gehen. Ihm war nicht nach Bewegung. Ohne zu Mittag zu essen, fuhr er nach Hause, setzte sich aufs Sofa und hörte Chopins Balladen, gespielt von Arthur Rubinstein. Wenn er die Augen schloss, sah er das Gesicht der Frau vor sich. Auch ihr Haar konnte er noch spüren. Selbst an die Form des schwarzen Muttermals auf ihrem Ohrläppchen erinnerte er sich deutlich. Nach einer Weile verschwanden ihr Gesicht und der Peugeot, aber das Muttermal blieb. Der kleine schwarze Fleck blieb da, ob er die Augen auf- oder zumachte, wie ein übersehenes Satzzeichen.
    Gegen halb drei am Nachmittag beschloss er, seine Schwester anzurufen. Es musste Jahre her sein, dass er das letzte Mal mit ihr gesprochen hatte. Wie viele? Zehn? Sie hatten sich einander sehr entfremdet, zum Teil wegen der Dinge, die sie damals im Streit um ihre Hochzeit gesagt hatten. Ein weiterer Grund war ihr Mann, den er nicht mochte. Er war ein eingebildeter, ungehobelter Kerl, der von der sexuellen Neigung des Klavierstimmers redete wie von einer ansteckenden Krankheit. Wenn es nicht unbedingt nötig war, wollte er nicht näher als auf hundert Meter an den Mann herankommen.
    Nach einigem Zögern nahm mein Freund schließlich den Hörer ab und drückte die Nummer. Es klingelte ungefähr zehn Mal, und er wollte – fast ein wenig erleichtert – schon aufgeben, da meldete sich die vertraute Stimme seiner Schwester. Als sie erfuhr, wer am Apparat war, trat an ihrem Ende für einen Augenblick tiefe Stille ein.
    »Warum rufst du mich an?«, fragte sie tonlos.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete er ehrlich. »Ich dachte bloß, ich sollte es tun. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«
    Wieder Schweigen. Ein langes Schweigen. Vielleicht war sie noch immer wütend auf ihn.
    »Es gibt nichts Besonderes. Ich wollte nur sicher sein, dass es dir gut geht.«
    »Kannst du einen Moment warten?«, sagte sie. An ihrer Stimme erkannte er, dass sie geweint hatte. »Entschuldige mich nur einen Moment, ja?«
    Wieder trat Stille ein. Er behielt den Hörer am Ohr. Es war nichts zu hören, absolut nichts. »Hast du gerade Zeit«, fragte seine Schwester dann.
    »Ja«, erwiderte er.
    »Kann ich jetzt gleich zu dir kommen?«
    »Klar. Ich hole dich von der Haltestelle ab.«
    Eine Stunde später waren sie auf dem Weg in seine Wohnung. Zehn Jahre hatten sich Bruder und Schwester nicht gesehen. Jetzt mussten sie zugeben, dass sie gealtert waren; jeder nahm im Spiegel des anderen die eigene Veränderung wahr. Seine Schwester war noch immer schlank und elegant und sah fünf Jahre jünger aus, als sie war; aber ihre hohlen Wangen waren von einer Strenge, die er an ihr nicht

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