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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Restaurant, wo sie Wasserkresse-Salat und gegrillten Barsch bestellten. Sie nahmen jeder ein Glas Weißwein dazu und sprachen über Dickens.
    Auf der Rückfahrt zum Shopping Center hielt sie an einem Park und ergriff seine Hand. Sie wolle »ein ruhiges Plätzchen« mit ihm aufsuchen, sagte sie. Er war überrascht, mit welcher Geschwindigkeit sich die Sache entwickelte.
    »Seit ich verheiratet bin, habe ich so etwas noch nie getan, kein einziges Mal«, entschuldigte sie sich. »Wirklich. Aber ich habe die ganze Woche nur an Sie gedacht. Ich verspreche Ihnen, ich werde keine Forderungen stellen. Ihnen keine Umstände machen. Natürlich, wenn ich Ihnen nicht gefalle …«
    Er drückte liebevoll ihre Hand und erklärte ihr in aller Ruhe die Situation. »Wenn ich ein Mann wie die meisten wäre, würde ich mich glücklich schätzen, mit Ihnen ›ein ruhiges Plätzchen‹ aufzusuchen. Sie sind sehr attraktiv, und es wäre sicher wunderbar, auf diese Art mit Ihnen zusammen zu sein. Nur bin ich homosexuell und schlafe nicht mit Frauen. Einige Schwule können das, ich aber nicht. Ich hoffe, Sie verstehen das. Ich kann Ihr Freund werden, aber leider nicht Ihr Liebhaber.«
    Es dauerte ein bisschen, bis sie begriffen hatte, was er ihr zu erklären versuchte (offenbar begegnete sie zum ersten Mal in ihrem Leben einem Homosexuellen). Als sie es endlich geschluckt hatte, fing sie an zu weinen. Sie hatte den Kopf an die Schulter des Klavierstimmers gelegt und weinte lange. Die arme Frau hat einen Schock, dachte er, legte den Arm um sie und strich ihr übers Haar.
    »Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Ich habe Sie dazu gebracht, über etwas zu sprechen, wovon Sie nicht sprechen wollten.«
    »Das macht nichts. Ich verstecke mich nicht vor der Welt. Ich hätte sensibler sein und Sie warnen sollen. Ich bin derjenige, der sich bei Ihnen entschuldigen muss.«
    Er strich ihr mit seinen schlanken Händen über das Haar, bis sie sich allmählich beruhigte. Ein Muttermal an ihrem rechten Ohrläppchen weckte in ihm Kindheitserinnerungen – seine zwei Jahre ältere Schwester hatte ein ähnliches Muttermal an der gleichen Stelle. Als Kind hatte er, wenn sie schlief, immer spielerisch versucht, es wegzurubbeln. Dann wachte seine Schwester auf und wurde ärgerlich.
    »Seit wir uns begegnet sind, war ich richtig aufgeregt«, erzählte sie ihm. »Ich habe mich schon lange nicht mehr so gefühlt, beinahe wie ein Teenager. Das hat mir gut getan, machen Sie sich also bitte keine Gedanken. Ich war bei der Kosmetikerin, habe eine Schnelldiät gemacht, mir italienische Unterwäsche gekauft …«
    Er lachte. »Ich habe Sie also dazu gebracht, Geld aus dem Fenster zu werfen.«
    »Aber ich glaube, ich habe das jetzt gebraucht.«
    »Was gebraucht?«
    »Ich musste meinen Gefühlen einen Ausdruck geben.«
    »Indem Sie sexy Dessous aus Italien kaufen?«
    Sie errötete heftig. »Gar nicht sexy. Überhaupt nicht. Nur sehr schön.«
    Er lachte und sah ihr in die Augen, um ihr zu zeigen, dass er nur einen Scherz gemacht hatte, um die Situation zu entschärfen. Sie verstand und lächelte zurück. Eine Weile sahen sie sich in die Augen.
    Er zog sein Taschentuch heraus und wischte ihr die Tränen ab. Sie setzte sich auf und richtete im Spiegel der Sonnenblende ihr Make-up.
    »Übermorgen muss ich in eine Klinik in der Stadt, zu einer zweiten Untersuchung auf Brustkrebs.« Sie hielt auf dem Parkplatz vor dem Shopping Center und zog die Handbremse an. »Sie haben bei einer Mammographie einen verdächtigen Schatten entdeckt und mich noch einmal zu weiteren Tests bestellt. Sollte es wirklich Krebs sein, würde ich sofort operiert. Vielleicht habe ich mich auch deshalb heute so aufgeführt. Das heißt …«
    Sie schwieg einen Moment und schüttelte dann mehrmals nachdrücklich den Kopf.
    »Ach, ich verstehe es ja selbst nicht.«
    Der Klavierstimmer lotete die Tiefe ihres Schweigens aus. Er lauschte und versuchte, vielleicht doch eine leise Schwingung darin zu vernehmen.
    »Ich bin jeden Dienstagvormittag hier«, sagte er. »Immer. Viel kann ich nicht tun, aber wenn Sie jemanden zum Reden brauchen, bin ich für Sie da. Das heißt, wenn Sie mit einer Person wie mir vorlieb nehmen.«
    »Ich habe noch niemandem davon erzählt. Nicht einmal meinem Mann.«
    Er legte seine Hand auf ihre, die noch auf der Bremse ruhte.
    »Ich habe solche Angst«, sagte sie. »Manchmal kann ich kaum noch denken.«
    Ein blauer Minivan bog in den Platz neben ihnen ein, und ein schlecht gelauntes

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