Blinder Hass
dass er unser Mann ist.«
»Heute Morgen war es noch ein Dollar.«
»Hundert Dollar«, wiederholte Virgil.
»Bar auf die Hand? Einhundert Dollar?«
Virgil dachte einen Augenblick nach. »Du müsstest zweihundert dagegensetzen«, sagte er schließlich.
Stryker bemühte sich zu lachen, dann schüttelte er den Kopf. »Verdammt, er wird uns am Donnerstagmorgen in der Luft zerreißen.«
»Dann müssen wir ihm halt eine bessere Story liefern«, erwiderte Virgil. »Ich hab schon daran gedacht, Pirelli anzurufen. Mal hören, was er zu sagen hat.«
»Mach das«, sagte Stryker und stand auf. »Ich muss zum Gefängnis rüber. Wenn wir uns nachher nicht mehr sehen, sehen wir uns morgen.«
Virgil verließ das Büro und suchte die Herrentoilette auf. Nach einer Dusche war eine schöne, ruhige Toilette der zweitbeste Ort zum Nachdenken.
Williamson behauptete, dass Judd ihn aufgetrieben hätte und nicht umgekehrt. Da steckte eine gewisse Logik drin, die Stryker gefiel. Wenn Williamson Judds Sohn war, dann hatte Judd es wahrscheinlich gewusst. War es denkbar, dass er mit zunehmendem Alter angefangen hatte, über die Zukunft nachzudenken, vielleicht ein bisschen in der Offenbarung gelesen hatte, weichherzig geworden war und den Wunsch verspürt hatte, seine Kinder um sich zu sammeln? Hatte deshalb sein Testament nicht in dem Bankfach gelegen? Hatte er vorgehabt, es zu ändern? Wäre das für Junior ein Grund gewesen, seinen Vater loswerden zu wollen?
Andererseits war Williamsons Alibi, er wäre bei der Benefizveranstaltung für die neue Feuerwache gewesen, etwas zu praktisch für Virgils Geschmack. Die Veranstaltung hatte bei Mitchell’s stattgefunden, der Sportkneipe hier im Ort. Durch die Hintertür des Lokals gelangte man auf den Parkplatz. Und von diesem Parkplatz aus war man in fünf Minuten bei den Gleasons, wenn man an den Bahngleisen entlanglief, dann die Brücke überquerte und den Hügel hinaufging. Kein Problem im Dunkeln. Und gegen zehn Uhr war man seit zwei Stunden mit dem Essen fertig, und es war wahrscheinlich schon reichlich Alkohol geflossen. Wäre irgendjemandem aufgefallen, wenn Todd Williamson, der den ganzen Abend so unübersehbar gewesen war, für zwanzig Minuten verschwunden wäre? Wenn er statt auf die Toilette zur Hintertür hinausgegangen wäre?
Für Virgil war dieses Alibi alles andere als wasserdicht.
Stryker war anderer Meinung.
Zum Teufel mit ihm.
Er wusch sich gerade die Hände, als ein Deputy hereinkam, zu den beiden leeren Toilettenkabinen blickte und dann sagte: »Ich muss mit Ihnen reden, möchte aber nicht, dass das jemand erfährt.«
Virgil zuckte mit den Schultern. »Okay, aber …«
»Was aber?« Auf dem Namensschild des Deputy stand »Merrill«. Er wirkte nervös und leicht unbeholfen. Er trug eine Brille mit Goldrand und hatte einen struppigen Schnurrbart.
»Das ist eine Untersuchung in einem Mordfall«, erklärte Virgil. »Wenn Sie etwas dazu zu sagen haben, dann sollten Sie das tun. Ich kann Ihnen nicht versprechen, das vertraulich zu behandeln.«
Merrill rieb sich die Nase, sah zur Tür und sagte dann: »Ich hab Sie gesehen, als Judds Haus abgebrannt ist.«
Virgil nickte. Lass den Typ erst mal reden.
»Ja, also … vermutlich hat es nichts zu bedeuten, deshalb sprech ich auch nur ungern darüber … aber …«
»Sagen Sie’s, ich beiße nicht«, brummte Virgil.
»Jesse Laymon war dort. Hat Bier getrunken und rumgegafft.«
»Yeah?«
»Nun ja, sie hat privaten Kontakt zum Sheriff, das weiß doch jeder. Die Sache ist die, ich kenne ihren Truck, und ich hab ihn nicht ankommen und auch nicht wegfahren sehen. Ich hab auch nicht gesehen, dass sie mit jemand anderem zurückgefahren wäre. Ich kenne so ziemlich jeden hier im County, auf jeden Fall jeden, der dort oben war, und ich hab herumgefragt und kann niemanden finden, der sie mit zurückgenommen oder sie hingebracht hat. Es goss wie aus Kübeln. Kommt mir komisch vor, dass sie zu Fuß gegangen sein soll.«
»Sie hatte eine Dose Bier in der Hand, als ich sie gesehen hab«, sagte Virgil.
»Genau«, sagte Merrill. »Ich hab angenommen, dass sie mit irgendwelchen Leuten aus der Bar gekommen ist. Ich kann aber niemanden finden, der sie mitgenommen hat.«
»Sie kennen ihren Truck also ganz genau?«
»Mann, Jesse ist … einer der heißesten Feger hier im County. Natürlich kenne ich ihren Truck. Ich winke ihr jedes Mal zu, wenn ich sie sehe.«
Virgil musterte ihn forschend, dann sagte er: »Reden Sie nicht
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