Blinder Passagier
die beiden waren sehr diskret. Ich war mir nicht sicher, ob das ATF oder die DEA davon wussten.
»Bis später«, sagte Lucy zu mir und legte auf.
2
Captain Pete Marino von der Richmonder Polizei und ich kannten uns so lange, dass es manchmal schien, als könnten wir die Gedanken des jeweils anderen lesen. Deswegen war ich nicht wirklich überrascht, als er mich anrief, noch bevor ich Gelegenheit hatte, ihn ausfindig zu machen.
»Du klingst verschnupft«, sagte er. »Hast du eine Erkältung?«
»Nein. Gut, dass du anrufst. Ich wollte dich gerade anrufen.« »Tatsächlich?«
Ich hörte, dass er rauchte entweder in seinem privaten Pickup oder in einem Polizeiauto. In beiden befanden sich Funkgeräte und Scanner, die im Augenblick einen Mordslärm verursachten.
»Wo bist du?«, fragte ich ihn.
»Ich fahre herum und höre die Scannermeldungen«, sagte er, als hätte er das Verdeck heruntergelassen und würde den schönen Tag genießen. »Und zähle die Stunden bis zu meiner Pensionierung. Ist das Leben nicht großartig? Fehlt nur noch eine Frau in meinem Arm.«
Sein Sarkasmus war schneidend.
»Was ist los mit dir?«, fragte ich.
»Ich nehme an, du hast von der verwesten Leiche gehört, die sie vorhin im Hafen von Richmond gefunden haben«, sagte er.
»Angeblich kotzen die Leute nur so. Bin bloß froh, dass mich das nichts angeht.«
Mein Verstand weigerte sich zu funktionieren. Ich wusste nicht, wovon er sprach. Ich hörte, dass jemand anders versuchte, mich telefonisch zu erreichen. Ich nahm das schnurlose Telefon in die andere Hand, während ich in mein Arbeitszimmer ging und den Stuhl vor dem Schreibtisch wegzog.
»Was für eine verweste Leiche?«, fragte ich ihn. »Marino, einen Augenblick. Ich hab einen Anruf auf der anderen Leitung. Bleib dran.« Ich drückte auf einen Knopf. »Scarpetta«, sagte ich.
»Ich bin's, Jack«, sagte mein Stellvertreter Jack Fielding. »Im Hafen wurde in einem Frachtcontainer eine Leiche gefunden.
Ziemlich stark verwest.«
»Das hat Marino mir gerade erzählt«, sagte ich.
»Sie klingen, als hätten Sie einen Schnupfen. Ich glaube, ich kriege auch eine Erkältung. Und Chuck kommt später, weil er sich nicht wohl fühlt. Sagt er jedenfalls.«
»Wurde der Container gerade von einem Schiff entladen?«, unterbrach ich ihn.
»Von der Sirius, wie der Stern. Ziemlich gruselige Angelegenheit. Wie soll ich vorgehen?«
Ich begann, Notizen auf einen Block zu kritzeln, meine Handschrift noch unleserlicher als sonst, mein zentrales Nervensystem so satt wie eine kaputte Festplatte.
»Ich fahre hin«, sagte ich, ohne zu zögern, während Bentons Worte noch in meinem Kopf nachklangen.
Und wieder einmal startete ich durch und rannte los. Diesmal vielleicht sogar noch schneller.
»Das müssen Sie nicht, Dr. Scarpetta«, sagte Fielding, als würde er plötzlich die Verantwortung übernehmen. »Ich werde hinfahren. Heute ist Ihr freier Tag.«
»Wen kontaktiere ich, wenn ich dort bin?«, fragte ich. Ich wollte nicht, dass er es noch mal versuchte.
Fielding bat mich seit Monaten, eine Pause einzulegen, für ein oder zwei Wochen Urlaub oder sogar ein Freisemester zu nehmen. Ich hatte es satt, dass die Leute mich besorgt ansahen.
Mich ärgerte die Unterstellung, dass Bentons Tod meine professionellen Leistungen beeinträchtigte, dass ich meine Kollegen und andere Leute mied und einen erschöpften und zerstreuten Eindruck machte.
»Detective Anderson hat uns verständigt. Sie ist dort«, sagte Fielding.
»Wer?«
»Muss neu sein. Wirklich, Dr. Scarpetta, ich kümmere mich darum. Warum ruhen Sie sich nicht aus? Bleiben Sie zu Hause.«
Mir fiel ein, dass Marino auf der anderen Leitung wartete. Ich schaltete um, um ihm zu sagen, dass ich ihn zurückrufen würde, sobald das andere Gespräch beendet wäre, aber er hatte bereits aufgelegt.
»Sagen Sie mir, wie ich dorthin komme«, sagte ich zu meinem Stellvertreter.
»Sie nehmen meinen Pro-bono-Rat also nicht an?«
»Von meinem Haus aus nehme ich den Downtown Express-way und dann?«
Er erklärte es mir. Ich legte auf und hastete in mein Schlafzimmer, Bentons Brief in der Hand. Ich wusste nicht, wo ich ihn aufbewahren sollte. Ich konnte ihn nicht einfach in eine Schublade oder einen Aktenschrank legen. Womöglich würde ich ihn verschlampen, oder meine Zugehfrau fände ihn, ebenso wenig wollte ich ihn an einem Ort aufheben, wo ich zufällig darüber stolpern und erneut zusammenbrechen würde. Meine Gedanken drehten sich im Kreis, mein
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