Blink! - die Macht des Moments
zur Hand und zeichnete eine Grafik, die aussah wie das Auf und Ab des Aktienmarktes
im Verlaufe eines typischen Handelstages. Seine |37| Analysen unterscheiden sich im Grunde nicht von diesen Börsenbarometern: Er verfolgt die Fieberkurve der positiven und negativen
Emotionen eines Paares, und dabei stellte er fest, dass man nicht lange braucht, um zu erkennen, in welche Richtung sich die
Grafik entwickelt. »Bei den einen geht es bergauf, bei den anderen bergab«, sagt er. »Aber wenn sie erst mal auf dem Weg nach
unten sind, dann geht es bei 94 Prozent aller Beziehungen unaufhaltsam talwärts. Sie geraten in einen Sog, dem sie nicht mehr
entkommen können. Deshalb sind unsere Videoaufnahmen mehr als ein nur schmaler Ausschnitt aus einer Beziehung. Anhand dieses
Ausschnitts können wir erkennen, wie die beiden Partner ihre gesamte Beziehung beurteilen.«
Warum Verachtung so wichtig ist
Versuchen wir, hinter das Geheimnis von Gottmans Erfolgsquote zu kommen. John Gottman hat erkannt, dass jede Ehe ihre ganz
bestimmte Handschrift hat, und wir können diese Handschrift erkennen, wenn wir detaillierte Informationen über das Verhalten
des Paares sammeln. Mindestens genauso interessant ist jedoch die Art und Weise, wie Gottman seine Vorhersagemethoden vereinfacht.
Mir war nicht klar, wie schwierig die Interpretation eines solchen Paargesprächs ist, bis ich mich selbst daran versuchte.
Gottman drückte mir eines seiner Bänder in die Hand, auf dem dreiminütige Clips von zehn unterschiedlichen Ehepaaren aufgezeichnet
waren. Die Hälfte dieser Paare habe sich weniger als 15 Jahre nach Aufzeichnung dieser Gespräche getrennt, sagte er mir, und
die andere Hälfte sei noch zusammen. Ich solle doch einmal versuchen, herauszufinden, welche Paare noch zusammen seien und
welche nicht. Ich war einigermaßen zuversichtlich, dass mir das gelingen würde. Doch ich hatte mich getäuscht: Es stellte
sich |38| heraus, dass ich keine Ahnung hatte. Ich tippte fünf von zehn richtig – genauso gut hätte ich auch eine Münze werfen können.
Meine Schwierigkeit fing damit an, dass in den Clips plötzlich eine überwältigende Fülle an Informationen auf mich einstürzte.
Der Ehemann sagt etwas mit Vorsicht. Die Frau antwortet ruhig, ihr scheint irgendein Gefühl übers Gesicht zu huschen. Er sagt
etwas und bricht mitten im Satz ab. Sie verzieht das Gesicht. Er lacht. Jemand murmelt etwas Unverständliches. Jemand anders
runzelt die Stirn. Ich spulte die Bänder vor- und rückwärts, und jedes Mal entdeckte ich neue Details: hier die Spur eines
Lächelns, dort ein leicht veränderter Tonfall. Es war einfach zu viel. Ich versuchte verzweifelt, positive und negative Emotionen
gegeneinander aufzurechnen – aber was war überhaupt positiv, was negativ? Von der Aufzeichnung von Susan und Bill hatte ich
noch im Hinterkopf, dass vieles von dem, was auf den ersten Blick positiv erscheint, gar nicht positiv sein muss. Außerdem
hatte ich eine Liste mit den 20 verschiedenen Kategorien des SPAFF-Systems vor mir – haben Sie je versucht, mit 20 Kategorien
gleichzeitig zu jonglieren?
Zugegeben, ich bin kein Eheberater. Doch dieses Band wurde rund 200 Paartherapeuten, Psychologen, Pfarrern und Studenten vorgespielt
sowie einer Reihe von frisch Vermählten, frisch Geschiedenen und glücklich Verheirateten – alles Menschen, die mehr von der
Ehe verstehen als ich –, und es schnitt keiner besser ab. Der Durchschnitt der Befragten lag bei 53,8 Prozent richtigen Antworten,
was bedeutet, sie hätten auch eine Münze werfen können. Dass es ein Muster gab, half offenbar niemandem weiter. In den drei
Minuten jeder Aufnahme spielten sich so viele Dinge gleichzeitig ab, dass wir das Muster nicht entdecken konnten.
Gottman kennt dieses Problem nicht. Er erzählt, er habe den Dreh inzwischen so gut raus, dass er in einem Restaurant ein Paar
am Nebentisch belauschen und nach wenigen Minuten sagen könne, ob die beiden schon darüber nachdenken sollten, sich Anwälte
zu suchen, um das Sorgerecht für die Kinder zu klären. Wie |39| schafft er das? Ganz einfach: Er hat gelernt, dass er nicht auf jede Kleinigkeit achten muss. Beim Beurteilen der Videoclips
hatte mich die Aufgabe völlig überfordert, die negativen Emotionen zu zählen, denn ich konnte plötzlich die negativen nicht
mehr von den positiven Signalen unterscheiden. Gottman geht viel selektiver vor. Im Laufe der Jahre hat er festgestellt,
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