Bloodlines: Die goldene Lilie (German Edition)
Wieder fragte er: »Bist du okay?«
»Nicht ich bin diejenige, die ein Schwert an der Kehle hatte.«
»Danach habe ich nicht gefragt. Bist du sonst noch irgendwo verletzt?«
»Nein«, antwortete ich und schlug die Augen nieder. »Nur vielleicht … vielleicht in meinem Stolz.«
»In deinem Stolz?« Er hielt inne und spülte den Waschlappen aus. »Was hat der damit zu tun?«
Ich hob den Blick, sah ihm aber immer noch nicht in die Augen. »Ich kann vieles, Adrian. Und – auf das Risiko hin, selbstgefällig zu klingen – ich meine, na ja, ich kann einige ziemlich umwerfende Dinge tun, die die meisten Leute nicht tun können.«
Jetzt lag Erheiterung in seiner Stimme. »Als ob ich das nicht wüsste. Du kannst in zehn Minuten einen Reifen wechseln und dabei griechisch sprechen.«
»Fünf Minuten«, entgegnete ich. »Aber wenn mein Leben auf dem Spiel steht – wenn das Leben anderer auf dem Spiel steht – , wozu bin ich dann nutze? Ich kann nicht kämpfen. Ich war da draußen vollkommen hilflos. Genau wie damals, als die Strigoi uns und Lee überfallen haben. Ich kann nur dastehen und zusehen und darauf warten, dass solche Leute wie Rose und Dimitri mich retten. Ich … ich bin das sprichwörtliche Fräulein in Nöten.«
Er war damit fertig, mein Gesicht zu säubern, und legte jetzt den Waschlappen weg. Dann umfasste er mein Gesicht mit beiden Händen. »Das einzig Wahre an deinen Worten ist der Teil über das sprichwörtliche Fräulein – und das auch nur, weil du hübsch genug bist, um eins zu sein. Nicht die Sache mit den Nöten. Alles andere, was du gesagt hast, war lächerlich. Du bist überhaupt nicht hilflos.«
Endlich blickte ich auf. Sonst war in unseren Gesprächen nicht Adrian derjenige, der mich bezichtigte, lächerlich zu sein. »Oh? Also bin ich wie Rose und Dimitri?«
»Nein. Ebenso wenig wie ich. Und wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, hat mir kürzlich jemand gesagt, der Versuch, wie andere Leute zu sein, sei nutzlos. Dass man nur versuchen sollte, man selbst zu sein.«
Der Umstand, dass er mir meine eigenen Worte unter die Nase rieb, ließ mich die Stirn runzeln. »Die Situation jetzt ist ganz und gar nicht dieselbe. Ich rede davon, auf mich selbst aufzupassen, aber nicht davon, jemanden zu beeindrucken.«
»Nun, das ist ja dein anderes Problem, Sage. ›Auf mich selbst aufpassen.‹ Diese Begegnungen, die du hattest – Strigoi, verrückte Männer mit Schwertern. Das ist nicht so ganz normal. Meiner Ansicht nach musst du dir wirklich keine Vorwürfe machen, weil du dich nicht gegen diese Überfälle wehren konntest. Die meisten Leute könnten das nicht.«
»Ich sollte dazu aber in der Lage sein«, murmelte ich.
Seine Augen zeigten Mitgefühl. »Dann lerne. Dieselbe Person, die mir gern Ratschläge erteilt, hat mir einmal gesagt, ich solle mich nicht als Opfer fühlen. Also, fühl du dich auch nicht als Opfer. Du hast gelernt, eine Million anderer Dinge zu tun. Lern es. Belege einen Kurs in Selbstverteidigung. Schaff dir eine Waffe an. Du kannst zwar keine Wächterin sein, aber es gibt auch andere Möglichkeiten, wie du dich selbst schützen kannst.«
Eine Vielzahl von Gefühlen brodelte in mir. Zorn. Verlegenheit. Zuversicht. »Für einen Betrunkenen hast du ganz schön viel zu sagen.«
»Oh, Sage! Ich habe in jedem Fall viel zu sagen, ob nun betrunken oder nüchtern.« Er ließ mich los und trat zur Seite. Ohne ihn in meiner Nähe kam ich mir seltsam verletzlich vor. »Die meisten Leute kapieren nicht, dass ich in dieser Verfassung stringenter bin. Geist kann mich wesentlich weniger leicht verrückt machen.« Er tippte sich an den Kopf und verdrehte die Augen.
»Apropos … ich werde dir keine Vorträge darüber halten«, sagte ich, dankbar für den Themenwechsel. »Das Mittagessen mit deinem Dad war ätzend. Ich verstehe schon. Wenn du das ertränken willst, ist das in Ordnung. Aber bitte, denk einfach auch an Jill! Du weißt, was das mit ihr macht – vielleicht nicht jetzt, aber später.«
Der Hauch eines Lächelns umspielte seine Lippen. »Du bist immer die Stimme der Vernunft. Versuch nur, ab und zu auch mal auf dich selbst zu hören.«
Die Worte kannte ich irgendwoher. Dimitri hatte etwas Ähnliches gesagt – dass ich mich nicht um andere kümmern könne, ohne mich zuerst um mich selbst zu kümmern. Wenn zwei Leute, die so ungeheuer verschieden waren wie Adrian und Dimitri, die gleiche Ansicht vertraten, dann war vielleicht etwas daran. Jedenfalls verschaffte es mir
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