Bloodlines: Die goldene Lilie (German Edition)
meiner Kurse lenkten mich so ab, dass ich nicht allzu viel an gestern Nacht denken musste, aber die freiwillige Hausarbeit für Ms Terwilliger war etwas anderes. Sie war zu still, zu maßvoll. Sie ließ mir viel Zeit im eigenen Kopf, so dass all die Furcht und Selbstzweifel wieder hochkamen, die ich hatte verdrängen wollen. Ausnahmsweise einmal kopierte und notierte ich die Zaubersprüche, ohne sie wirklich auswendig zu lernen. Im Allgemeinen konnte ich einfach nicht anders. Heute war ich mit den Gedanken jedoch nicht bei der Sache.
Die Hälfte der Stunde war bereits vorbei, als ich endlich ausreichend Antenne für das entwickelt hatte, was da vor mir lag. Es war ein Zauberspruch aus der späten Antike, der dem Opfer angeblich suggerierte, dass Skorpione über ihn oder sie hinwegkrochen. Wie in so vielen von Ms Terwilligers Zauberbüchern war die Formel verzwickt und zeitaufwendig.
»Ms Terwilliger?« Es gefiel mir überhaupt nicht, sie etwas zu fragen, aber die jüngsten Ereignisse bedrückten mich allzu sehr.
Überrascht sah sie von ihren Papieren auf. Nach dem kalten Krieg, der zwischen uns herrschte, hatte sie sich daran gewöhnt, dass ich nie etwas sagte, es sei denn, ich wurde direkt angesprochen. »Ja?«
Ich klopfte auf das Buch. »Was haben diese sogenannten Angriffszauber für einen Nutzen? Wie könnten Sie sie jemals in einem Kampf einsetzen, wenn dazu Tränke notwendig sind, deren Zubereitung Tage dauert? Wenn Sie überfallen werden, haben Sie keine Zeit für so etwas. Es bleibt ja kaum Zeit zum Nachdenken.«
»Welchen Zauber haben Sie da vor sich?«, fragte sie.
»Den mit den Skorpionen.«
Sie nickte. »Ah, ja. Nun, da muss man etwas im Voraus planen. Wenn Sie jemanden haben, den Sie nicht mögen, arbeiten Sie an diesem Zauber und weben ihn. Ziemlich effektiv für Exfreunde, möchte ich hinzufügen.« Sie bekam einen geistesabwesenden Ausdruck, dann konzentrierte sie sich wieder auf mich. »Tatsächlich gibt es gewisse Zauber, die in Situationen, wie Sie sie beschreiben, effektiver wären. Ihr Feuerzauber erforderte zwar, wenn Sie sich recht erinnern, viel Vorarbeit, ließ sich dann aber ziemlich schnell einsetzen. Es gibt andere, die mit wenigen Zutaten in extrem kurzer Zeit gewoben werden können – aber wie ich schon früher gesagt habe, diese Arten erfordern ein beträchtliches Talent. Je fortgeschrittener Sie sind, desto weniger brauchen Sie an Zutaten. Sie benötigen erheblich mehr Erfahrung, bevor Sie ein Niveau erreicht haben, so etwas zu lernen.«
»Ich habe nie gesagt, dass ich so etwas lernen will«, fauchte ich. »Ich stelle nur … eine Frage.«
»Oh? Da habe ich mich wohl geirrt. Es hörte sich beinahe so an, als wären Sie, ich wage es zu sagen, interessiert.«
»Nein!« Ich war dafür dankbar, dass die heilende Magie meiner Tätowierung die schlimmsten Schwellungen vom vergangenen Abend auf meinem Gesicht beseitigt hatte. Sie sollte nicht den Verdacht haben, dass ich ernsthaft an einem Schutz interessiert wäre. »Verstehen Sie, deswegen sage ich hier nie etwas. Sie interpretieren zu viel in meine Worte hinein und sehen darin einfach eine Möglichkeit, ihren Plan fortzusetzen, mich zu quälen.«
»Sie zu quälen? Sie lesen hier drin Bücher und trinken Kaffee – was Sie doch auch dann täten, wenn Sie nicht hier wären.«
»Nur, dass ich mich erbärmlich fühle«, erwiderte ich. »Ich verabscheue jede Minute der Arbeit hier. Ich bin fast so weit, wegzubleiben und das Allerschlimmste in Kauf zu nehmen. Das ist alles so krank und widernatürlich und … «
Das letzte Läuten des Tages unterbrach mich, bevor ich etwas gesagt hätte, das ich noch bedauert hätte. Fast sofort erschien Trey in der Tür. Ms Terwilliger begann zusammenzupacken und schaute mit einem Lächeln zu ihm hinüber, als sei hier drin alles vollkommen normal.
»Nun, Mr Juarez. Wie nett von Ihnen, jetzt aufzutauchen, nachdem Sie es schon heute Morgen nicht in meinen Kurs geschafft haben.«
Rückblickend wurde mir bewusst, dass sie recht hatte. Trey war nicht in ihrem Geschichtskurs gewesen und auch nicht in unserem Chemiekurs. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich musste mich um eine Familienangelegenheit kümmern.«
»Familienangelegenheit« war eine Ausrede, die ich ebenfalls ständig benutzte, obwohl ich bezweifelte, dass Treys Familienangelegenheit etwas damit zu tun hatte, Vampire zu fahren, damit sie Blut trinken konnten.
»Können Sie mir, ähm, sagen, was ich verpasst habe?«, bat er.
Ms Terwilliger
Weitere Kostenlose Bücher