Bluescreen
»Pädophile«, egal ob er entsprechend handelt oder nicht. Da diese beiden Phasen – die Zeit, in der die sexuelle Attraktivität ihren maximalen Wert erreicht, sowie das Alter, in dem Sex mit Kindern das maximale Böse darstellt – unmittelbar aufeinander folgen, sollten wir uns da nicht fragen, ob es in unserer Gesellschaft nicht so etwas gibt wie eine strukturelle Beziehung zwischen unserem höchsten Gut und unserem absoluten Bösen?
Die nächstliegende Erklärung ist, dass wir womöglich Zeugen werden, wie zwei disparate Systeme an einem einzigen Punkt miteinander in Konflikt geraten. System A wäre die sexuelle Bewertung der Jugendlichkeit, angespornt von der Liberalisierung der Sexualität und ihrer wettbewerbsökonomischen Bindung an die Jugend. System B wäre die Moral der Erwachsenen samt des moralischen Impulses, jene Wesen zu schützen, die es vor sexuellen Übergriffen und allzu großer Aufmerksamkeit zu bewahren gilt – und zwar aufgrund der grausamen Nichtreziprozität, die Kindern sonst aufgezwungen wird, welche selbst noch gar kein sexuelles Begehren besitzen (dies gilt für echte Pädophilie, also für den Missbrauch von Kindern, die noch nicht die Pubertät erreicht haben); oder aufgrund der ebenso grausamen Zwangslage derer, die zwar alt genug sind, um selbst Begehren zu empfinden,die allerdings noch nicht in der Lage sind, wie Erwachsene ihr Einverständnis zu erklären oder sich vorzustellen, wie ihr zukünftiges Selbst einmal auf ihr Handeln zurückschauen wird (dies gilt im Fall des Missbrauchs Heranwachsender); und aufgrund des mit allen Formen des sexuellen Missbrauchs verbundenen fundamentalen Verrats an der sozialen Ordnung sowie an ihrer Zukunft, also in etwa wie ein Inzesttabu auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Die entscheidende Schwachstelle von System A (sexuelle Hierarchie, Ökonomie) liegt nun darin, dass es dazu tendiert, das Alter der Personen, auf die sich das sexuelle Interesse in besonderem Maße richtet, gnadenlos immer weiter herabzusetzen, bis selbst jene Kinder im juristischen Sinne erfasst werden, die die Sexualität in ihrer frischesten und knappsten Form in Händen halten. System B müsste eigentlich versuchen, diese Tendenz zu bekämpfen, indem es die notwendigen Restriktionen errichtet. Möglicherweise begeht System B aber gerade dann einen zerstörerischen Strafexzess, wenn es sich weigert, System A rundheraus infrage zu stellen. Anders ausgedrückt: Wenn die Moral den sexuellen Wert der Jugendlichkeit – mit all seinen bedrohlichen Nebeneffekten – prinzipiell akzeptiert, muss sie sich voller Rachedurst auf jenen einen Punkt fokussieren, an dem die Widersprüche sichtbar werden, und diejenigen überhart bestrafen, die der Jugend allzu sehr nachjagen oder dies in einem allzu wörtlichen Sinn tun.
Was auffällt, wenn man die Nachrichten sieht, ist die Intensität der strafenden Gewalt, die dort zum Einsatz kommt, wo die beiden Systeme aufeinanderprallen. Vom Standpunkt der Moral aus betrachtet, mag die überharte Bestrafung der Pädophilen und der Triebtäter (man verhindert, dass sie irgendwo anonym ihr Dasein fristen können; erklärt sie zu Fällen, in denen jede Rehabilitierung ausgeschlossen ist; jagt sie von Stadt zu Stadt, ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, in die Gesellschaft zurückzukehren) absolut sinnvoll sein angesichts der äußersten moralischen Verwerflichkeit, die zum Ausdruck kommt, wenn ein Kind missbraucht wird. (Wobei dabei vielleicht auch jene zweifelhafte zeitgenössische Doktrin eine Rolle spielt, nach der es prinzipiell unmöglich ist, Lüste zu rehabilitieren.) Ebenso sinnvoll könnte es jedoch sein, uns mit der Möglichkeit auseinanderzusetzen, dass gerade die Gnadenlosigkeit des Pädophilie-Verbots dazu beigetragen hat, jene Kräfte zu rationalisieren oder gar zu festigen, die Jugendlichen, die nur wenige Jahre älter sind, den maximalen erotischen Wert zuweisen. Zu befürchten steht somit, dass es bei unserer kulturellen Fixierung auf das Thema Pädophilie weniger darum geht, dass wir die Kindheit wertschätzen und schützen wollen, sondern vor allem darum, dass wir ihren Sexappeal und ihr tatsächliches Sexualleben überbewerten bzw. falsch einschätzen. Das würde bedeuten, dass die Gesellschaft sozusagen verstanden hätte, dass sie so rücksichtslos gegen jegliche Form der sexuellen Annäherung an echte Kinder vorgehen muss, weil sie parallel so viel investiert, um die extreme ökonomische Bedeutung der Jugendlichkeit, die sich
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