Bluescreen
lebte. Man stellte Spuren von Drus Blut in seinem Auto fest, aber die Polizei konnte das Mädchen nicht finden. In den Nachrichten war jedoch immer und immer wieder ein schickes Foto von ihr, das auf dem College aufgenommen worden war, zu sehen, man verglich sie mit anderen entführten Jugendlichen und ritt auf ihrem Arbeitsplatz und all den Dessous herum.
Damals dachte ich, dass derlei immer wieder geschehen wird, solange Geschlechtsverkehr mit Sexkindern in unserer Gesellschaft das begehrteste, am stärksten mit Fantasien aufgeladene aller Konsumgüter ist. Dass ein Mörder in ein Einkaufszentrum fährt, um ein Sexkind zu entführen, erschien mir irgendwie unvermeidlich, auch wenn ich es angesichts der Umstände fürchterlich fand, so etwas zu denken. Die ganze Tragödie war so deprimierend, dass ich aufhörte, an dem Essay zu arbeiten
Als ich den zweiten Anlauf unternahm, konsultierte ich die wissenschaftliche Literatur über Kindesmissbrauch. Darunter gibt es Texte, deren Lektüre einigermaßen erträglich ist. Das gilt etwa für Berichte über missbrauchte Kinder, die sich bei Psychologen in Therapie begaben, die wiederum den anschließenden Heilungsverlauf in einer ganz eigenen, sehr hoffnungsvollen literarischen Gattung festhielten. Vollkommen unerträglich ist jedoch in der Regel die Literatur über Kinderschänder. In den Bibliotheksregalen finden sich wertvolle Beiträge zur Kriminologie und Psychologie, die Probleme wie Pädophilie und sexuellen Mißbrauch beleuchten, häufig ergänzt um ausführliche Interviews. Ich habe nicht allzu viel davon lesen können. Sosehr ich diese Männer auch bemitleidete, schien es mir doch eindeutig zu sein, dass man sie vernichten musste. Das war allerdings ein verrückter Gedanke, der meinen sonstigen Überzeugungen widersprach. Also begann ich darüber nachzudenken, was heute, in unserem areligiösen Zeitalter, den Platz der verabscheuenswürdigen Schandtat, des biblischen Gräuels eingenommen hat. Offensichtlich gibt es kulturelle Schnittstellen, an denen Phänomene entstehen, die man zwar erklären kann, die im Rahmen der Begriffe, mit denen die Strukturen operieren, die diese Dinge hervorbringen und analysieren, jedoch nicht zu verteidigen sind. Wer will in einer solchen Situation schon Konzepte wie Traumatisierung, Rehabilitation, Sozialisation oder biologisch bedingte Neigungen ins Spiel bringen. Man kann vor diesen Phänomenen nicht davonlaufen, sie lassen sich jedoch nicht in die Begrifflichkeiten der Gesellschaftsanalyse übersetzen, ohne dass dadurch unsere Werteordnung auf inakzeptable Weise durcheinander geriete. Das erklärt vielleicht die ausweglose Situation, in der man dann dem Impuls nachgibt, die Täter zu vernichten. Ich unterbrach die Arbeit ein zweites Mal.
In zunehmend finsterer Stimmung begann ich, das Rätsel der Sexkinder in so düstere Worte zu fassen wie irgend möglich. Es gibt in unserer Gesellschaft eine bestimmte Gruppe junger Menschen, die eine außerordentliche Wertschätzung erfahren, denen man nacheifert, die begehrt und begutachtet werden, die auf Leinwänden und Bildschirmen zu sehen sind, die als Lustobjekte fungieren und um die man sich auch sonst auf alle erdenklichen Weisen kümmert. Diese Kinder, die, rechtlich gesehen, gar keine Kinder mehr sind, ziehen all diese Aufmerksamkeit auf sich, weil sie so etwas wie Speicher einer unverbrauchten Sexualität darstellen, nicht wegen ihrer Intelligenz oder gar ihrer Schönheit. Haben sie ein Alter von siebzehn, achtzehn oder neunzehn Jahren erreicht, hebt die Gesellschaft sie kurzerhand auf den Olymp der sexuellen Attraktivität. Geht man jedoch von diesem mysteriösen Alter aus auf der Skala einige Stufen nach unten – sechzehn, fünfzehn, vierzehn Jahre usw. –, berührt die sexuelle Attraktivität der Kindheit rasch jenen Bereich, der in unserer Gesellschaft das absolut Böse beheimatet. Wer sich auf irgendeine Weise sexuell an Kindern vergeht, ist schlimmer als alle anderen Typen von Übeltätern: schlimmer als der Mörder, schlimmer als ein Erwachsener, derErwachsene vergewaltigt, schlimmer als jemand, der Kinder auf andere Art physisch oder psychisch missbraucht. Er kann selbst dann allein in der Rolle des Triebtäters in die Gesellschaft reintegriert werden, wenn er nur monströse Gedanken ausbrütet, wenn er der Polizei als chattender Cyberstalker ins Netz geht oder geschnappt wird, während er Bilder von Minderjährigen auf seine Festplatte herunterlädt. Er ist der
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