Bluescreen
in den nur unwesentlich älteren Jugendlichen konkret manifestiert, aufrechtzuerhalten. Reagiert die Gesellschaft an dieser Stelle deshalb mit solcher Vehemenz, weil wir uns in dem Moment, in dem der Deckmantel der Moral entfiele, eingestehen müssten, wie die Situation in Wirklichkeit aussieht? Nämlich dass Kinder sich überhaupt nicht für Erwachsene interessieren, dass die sexuelle »Befreiung« derKinder nichts ist als ein Nebeneffekt unserer eigenen verlogenen »Befreiung«; und dass unser Leben mittlerweile auf allen Ebenen durch die omnipräsente sexuelle Erregung brutal verroht?
Wir müssen uns noch einen Schritt weiter in die Finsternis hineinwagen, um diese Überlegungen abzuschließen. Die bemitleidenswerteste und abgründigste Form der Pädophilie ist das sexuelle Interesse für Kinder, die noch nicht geschlechtsreif sind – also Pädophilie im psychologischen Wortsinn. Dabei handelt es sich um eine pathologische psychische Störung. Abgesehen davon, ist die sexuelle Belästigung von Kindern ein Phänomen, das es immer gegeben zu haben scheint. Dies lässt sich jedoch nicht vollständig darauf zurückführen, dass es eben zu jeder Zeit einen bestimmten Prozentsatz von Menschen gibt, die sich der psychopathologischen Kategorie des Pädophilen zuordnen lassen. Zumindest ein geringer Anteil der entsprechenden Fälle muss auch damit zu tun haben, dass sexuelle Impulse auf junge Menschen fehlgeleitet werden, die vorübergehend als Objekte der Verführung oder Faszination fungieren. Das beste Beispiel dafür ist das Begehren für geschlechtsreife Jugendliche, denen sich ein Erwachsener dennoch nicht in sexueller Absicht nähern kann, ohne etwas zutiefst Unrechtes zu tun. Gerade das permanente Überschätzen der Sexualität und der sexuellen Attraktivität junger Menschen scheint nun allerdings das Begehren bestimmter Menschen auf die falschen Objekte umzulenken. Dadurch wiederum sollte die Gruppe der erstmaligen oder gelegentlichen Übeltäter zahlenmäßig zunehmen, die möglicherweise nicht länger in der Lage sind, die einst hell leuchtende Grenze zwischen Gut und Böse zu erkennen – gerade weil der gesellschaftliche Diskurs diese Grenze zunächst verschob und dann immer mehr verschwimmen ließ.
Wenn dem so ist, dann handelt es sich bei dieser Form des unmoralischen Interesses nicht allein um das Ergebnis einer »gelockerten« Moral, sondern des Zusammenspiels von Liberalisierung ( nicht Befreiung) und engstirniger kultureller Verbote. Die gesellschaftliche Sensibilität für Pädophilie nimmt zu; und möglicherweise bringen wir gerade auf diese Weise die Obsession hervor, die wir doch angeblich ablehnen. Der neue Pädophile der Gegenwart wäre dann ein Produkt unseres eigenen Wertesystems.
Welche Maßnahmen bieten sich an, um in dieser Situation Abhilfe zu schaffen? Eine Möglichkeit bestünde wohl darin, die kultische Verehrung der Jugendlichkeit zu beenden. Die Kindheit ist als Lebensphase dadurch gekennzeichnet, dass wir noch nicht das tun können, was wir eigentlich wollen. Wir sind ungeformt und dumm. In dieser Periode machen wir erste Erfahrungen. Diese kann man nun entweder als Prägungen verstehen, an denen wir alle weiteren Wiederholungen messen, wobei wir feststellen, dass diese im Lauf der Zeit an Klarheit verlieren; oder wir betrachten sie als unvollständige und unzulängliche Vorahnungen einer Wirklichkeit, die wir erst als Erwachsene kennenlernen werden. Wir wissen um die Schönheit junger Menschen; ihrer glatten Haut und ihrem unverbrauchten Fleisch bringt unsere Kultur traditionell Bewunderung entgegen. Wir wissen aber auch, dass die Schönheit der Jugend die Schönheit einer anderen, unfertigen Form des Lebens ist, nichts, was es nachzuahmen gilt. Man kann den jugendlichen Körper als Ideal wahrnehmen; oder aber als Rohling, der noch geprägt werden muss.
Ein zweiter Lösungsansatz könnte darin bestehen, Sex vollkommen zu banalisieren. Das lässt sich wesentlich schwerer umsetzen, da praktisch alle kulturellen Kräfte dagegen sind, Gegner der Liberalisierung und Verfechter der Prüderie eingeschlossen. Aldous Huxley hat uns vor einer Welt gewarnt, in der wir uns zum Geschlechtsverkehr so nüchtern, höflich und verbindlich verabreden wie derzeit auf einen Kaffee. Huxleys Szenario klingt in der Gegenwart wie ein wunderschönes utopisches Idyll. Bei Verabredungen zum Kaffee einigen sich immerhin beide Parteien auf friedliche Weise: Man trifft sich mit Menschen, die man eigentlich
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