Bluescreen
gar nicht treffen möchte, denen geht es genauso, aber am Ende kommen doch alle irgendwie auf ihre Kosten. Wenn Sex doch so eine einfache Angelegenheit wäre wie Verabredungen im Café! Sex lässt sich mit dieser Logik jedoch erwiesenermaßen nicht vereinen, und wahrscheinlich wird sich daran nichts ändern, selbst wenn es mittlerweile gelungen ist, eine Hürde zu überwinden, die in diesen Dingen bislang keine unwichtige Rolle spielte: die Unmöglichkeit nämlich, sexuelle Erregung genau dann einzuschalten, wenn man sie braucht. Die aktuelle Generation neuer Medikamente, die dieses Problem auf der physischen Ebene der Schwellkörper lösen, werden – wenn man Berichten über klinische Studien Glauben schenken darf – schon bald von Psychopharmaka abgelöst werden, die direkt ins, männliche wie weibliche, Gehirn eingreifen. Ich bin noch nicht restlos überzeugt, dass ihre Einführung eine Revolution im Bereich der Etikette nach sich ziehen wird.
Warum kann das Modell, in dem Sex zu einer unspektakulären Sache der Höflichkeit wird, von der beide Seiten gleichermaßen profitieren, nicht funktionieren? Das hatmöglicherweise damit zu tun, dass unsere permanente Bereitschaft, jedes andere menschliche Wesen als Sexobjekt wahrzunehmen (eine Haltung, zu der uns übrigens unsere Kultur zusätzlich ermuntert) im Grunde genommen Ausdruck einer rücksichtslos egozentrischen, ja asozialen Mentalität ist: Jeder lebendige Körper gilt uns als Instrument, um uns Vergnügen oder anderweitige Vorteile zu verschaffen. Zuweilen frage ich mich, ob wir nicht Zeugen einer Entwicklung werden, im Zuge derer der Prozess des Lebens selbst vollständig sexualisiert wird, so dass alle anderen Formen der Lust oder des Vergnügens im Geschlechtstrieb zusammenfließen. Der Umweg über die warmen, weichen, lebendigen Körper anderer Menschen eröffnet uns dabei einen Zugang zum Autoerotizismus, ein Trend, der auf der Ebene des intellektuellen Diskurses in Begriffen wie »Selbstverwirklichung« oder »Selbstfindung« zum Ausdruck kommt. Die eigentliche Frage in Bezug auf Geschlechtsverkehr lautet in der Gegenwart dann nicht länger: »Wie ist er oder sie denn im Bett?« (eine Frage, die häufig und ohne jede Scham formuliert wird), sondern vielmehr: »Wie bin ich eigentlich im Bett?« (eine Frage, die selten bis nie laut ausgesprochen wird). Oder auf einer grundlegenderen Ebene: »Wer ist eigentlich dieses Ich, dem ich im Zuge des Geschlechtsakts begegne?« Sex wird somit zu einem weiteren Feld der Selbstfindung.
Die traditionelle Methode zur Trivialisierung der sexuellen Lust, nämliche ihre Unterordnung unter die alles überwältigende romantische Liebe, funktioniert mittlerweile nicht mehr wirklich, weil der Fokus auf die Selbstfindung das Konzept der romantischen Liebe selbst zunehmend unterminiert. Mit der Selbstfindung wurdezwischen dem Selbst und den anderen eine verspiegelte Wand eingezogen, so dass die Energie, die eigentlich in Faszination, Aufmerksamkeit oder Liebe fließen sollte, sich nun auf uns selbst richtet, selbst wenn sie vermeintlich jemand anderem gilt. Kombiniert man den Hype um die Selbstfindung mit der Vorstellung, man könne sich permanent verwandeln oder erneuern (wobei wir bei diesem Neuen immer im wörtlichen oder metaphorischen Sinn an Jugendlichkeit denken), dann hat man ein bestimmtes Segment der Bevölkerungen der wohlhabenden westlichen Welt wohl recht präzise charakterisiert.
Was folgt aus diesen Überlegungen? Wollen wir dem Sex seine übertriebene Bedeutung nehmen und zugleich den Kult um die Jugendlichkeit beenden, so werden wir nicht darum herumkommen, zunächst einmal ganz bewusst eine Umwertung vorzunehmen. Wir müssen die Hierarchie umkehren und die Werte des Erwachsenenlebens an die Spitze stellen: den Intellekt über den Enthusiasmus, die Autonomie über das Abenteuer, die Eleganz über die Vitalität, die Bildung über die Unschuld – und möglicherweise die Erfahrung des Bekannten und des Vertrauten über die des Neuen.
Es ist noch nicht zu spät, um die Trivialisierung der Sexualität und die Abschaffung des Jugendkultes auf die Agenda einer humanen Zivilisation zu setzen. Zugleich bin ich jedoch überzeugt, dass wir diese Gelegenheit verpasst haben. Zumindest gehe ich davon aus, dass ich selbst davon nicht mehr profitieren werde. Wenn man diese Dinge kritisch anspricht, zielt diese Kritik zugleich auf das Herz eines bestimmten Systems. Wenn man zum Beispiel freiwillig auf die Genüsse der
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