Bluescreen
Ideologien immer auch darum geht zu lernen, vorübergehend zu sterben – oder besser: sich kurzzeitig ineinen todesähnlichen Zustand der Unempfindlichkeit zu versetzen. Es ist schwer, etwas über Depressionen zu sagen, ohne dabei auf eine Ebene der Verallgemeinerung zu geraten, die dem Einzelfall nicht länger gerecht werden kann. Daher nur so viel: Wenn wir zeitgleich den Aufstieg einer Ideologie, die Erfahrungen als alleinigen Weg zum Glück anpreist, und eine stetige Zunahme der Depression beobachten können, deren Opfer enttäuscht feststellen, dass ihr Leben keineswegs so voller Glück ist, wie sie es erwartet hatten, dann gibt es hier vielleicht auch einen kausalen Zusammenhang. Möglicherweise deutet diese Gleichzeitigkeit darauf hin, dass das Bewusstsein und der Körper in dem Moment, in dem Menschen die Intensität der Erfahrungen – aus welchen Gründen auch immer – nicht länger ertragen, auf unideologische Weise ein Problem zu lösen versuchen, dem man eigentlich nur mit einem System von Praktiken und Ideologien begegnen kann.
Wir leben nicht unbedingt in einem Zeitalter der schönen Künste. Der Roman, das Theater oder die symphonische Musik spielen heute keine allzu große Rolle. Kunstgattungen, die als Ergebnis ehrwürdiger Traditionen immer wieder neue Blüten hervorbrachten (Oper, Ballett, Malerei, Lyrik), interessieren heute gerade mal eine Handvoll Menschen.
Trotz alledem leben wir in einem ästhetischen Zeitalter, in einer Ära des totalen »Designs«, für die es historisch keine Vorbilder gibt. Das Aussehen und die Haptik einmal designter Dinge werden permanent redesignt, um unser ästhetisches Empfinden zu befriedigen und unser Interesse zu wecken. Das Design, das potenziell die ganzeWelt überziehen und durchdringen kann, hat die Kunst überflügelt, von deren individuellen Objekten man erwartete, dass sie sich voneinander unterschieden, und die einer Sphäre jenseits des Alltäglichen angesiedelt waren.
Ich möchte mich an dieser Stelle auf eine bestimmte Kunstform konzentrieren – auf Erzählungen. Ist es nicht bemerkenswert, dass immer noch und immer mehr fiktive Geschichten erzählt und Fakten in fiktionaler Form präsentiert werden? Weil wir uns daran gewöhnt haben, all diese Erzählungen nach Gattungen, Medien und Übertragungswegen zu differenzieren, übersehen wir bisweilen, wie viel es davon gibt und wie nahtlos sie ineinander übergehen. Mir scheint, dass es sich bei dem Krimi, in dem ein Verbrecher erschossen wird, der Fernsehserie, in der Ärzte ein Herz zurück ins Leben massieren, bei dem Nachrichtenbeitrag, in dem Gotteskrieger eine Geisel köpfen, und bei der Human-Interest-Sendung, in der man einem Kind seinen größten Wunsch (eine Reise oder etwas in der Art) erfüllt, um ein und dieselbe Gattung handelt, wenn man die Sache einmal aus einem sehr allgemeinen Blickwinkel betrachtet. In all diesen Fällen haben wir es mit Repräsentationen starker Erfahrungen zu tun, die sich immer weiter vervielfältigen, bis sie in unserer Wahrnehmung zu einem großen Einheitsbrei verschwimmen, selbst wenn wir eigentlich alle möglichen Namen und Kategorien kennen, um sie zu unterscheiden. Oft heißt es, wir würden uns gerne verfilmte Erfahrungen ansehen, weil wir das als aufregend oder interessant empfinden. Solange sich diese Aussage auf Einzelfälle bezieht, auf einzelne Filme oder Serien, ist sie durchaus richtig. Die großen Fernsehspiele oder Kinofilme führen uns angeblich unsere eigenen kleinen Dramen vor Augen: Genau wie die Chirurgen in Emergency Room muss auch ich eilige Aufgaben erfüllen. Genau wie der Detektiv muss auch ich Rätsel lösen. Angenommen, man würde jeden Monat nur eine einzige 60-minütige Fernsehsendung kucken, empfände man die dargestellte Erfahrung sicher als besonders intensiv. Und wenn man nur einmal im Monat Zeitung lesen oder die Nachrichten anschalten würde, so wäre dies sicher eine starke und vermutlich qualvolle Erfahrung. Doch seit das Fernsehen Einzug in jedes Wohnzimmer gehalten hat, sehen die wenigsten Menschen lediglich einen Film in der Woche oder im Monat. Und sie lesen nicht nur eine Zeitung oder Zeitschrift, sondern mehrere davon, und zwar nahezu rund um die Uhr. Die Zeitungsseite war dabei immer schon ein Rahmen, der ganz unterschiedliche und inkommensurable Katastrophen aufnehmen konnte. Wir lesen jedoch nicht länger eine einzelne Seite, sondern viele davon, und gleichzeitig sehen wir auch noch fern oder surfen im
Weitere Kostenlose Bücher