Bluescreen
Spaß haben und Erfahrungen sammeln will. Am Ende hat man dann aber einen Kater oder muss zu den Anonymen Alkoholikern. Alkohol ermöglicht uns also Erfahrungen; gleichzeitig bringt er uns aber möglicherweise in blöde Situationen, in denen wir Erfahrungen machen, die wir dann wieder mit Alkohol bekämpfen müssen.
Er ist die Ursache problematischer Erfahrungen und zugleich eine Reaktion auf Probleme mit der Erfahrung. Wenn wir sagen, der Alkohol habe nicht funktioniert – was heißt das dann genau? Dass wir ein Leben voller Spaß wollten, ein permanentes High, und dass das nicht geklappt hat? Oder dass er uns doch kein anästhetisches Leben ermöglicht hat, geschützt und abgeschottet von der Welt?
Oder nehmen wir jene Figuren, denen wir typischerweise in der Highschool, auf dem College oder in den Jahren unmittelbar danach begegnen – die »Kiffer«. Was wohl aus ihnen geworden sein mag? Vermutlich kann man nur als Schüler sein Dasein ungestraft auf diese Weise fristen. Während der Schulzeit kam mir diese Lebensweise auf jeden Fall enorm plausibel vor, die Kiffer wirkten wie Kreaturen, die die richtige ökologische Nische gefunden hatten. Sie standen morgens auf, rauchten eine Bong, ließen tagsüber ein paar Joints herumgehen und nahmen alles (den Unterricht, soziale Interaktionen) durcheinen anästhetischen Schleier wahr, der das Erlebte nicht zu Erfahrung werden ließ, aber auch nicht zu etwas Positivem wie »Spaß«. Abends rauchten sie dann noch eine Gutenacht-Bong, und am nächsten Tag ging alles wieder von vorne los. So stellte ich mir damals ein Leben in der Anti-Erfahrung vor, mit physischer Abhängigkeit hatte das alles wenig zu tun. Kein Zweifel: Die Nostalgie für eine Existenzweise, deren prinzipielle Möglichkeit – zumindest für einige kurze Jahre – die Kiffer bewiesen, hat etwas Kurzsichtiges an sich. Man kann sich eigentlich nicht vorstellen, dass so etwas auf Dauer gut gehen kann. Doch wenn er so dasaß, der Kiffer, gehüllt ihn süßlich duftenden Rauch, dann hatte das etwas Symptomatisches: Er wirkte dann nicht wie ein Abenteurer, sondern wie ein Symbol für eine ganz reale Reaktion auf etwas, für das wir noch keinen passenden Namen gefunden haben.
Die kleine Gruppe von Menschen, die sich für die Legalisierung von Marihuana einsetzen (ironischerweise können daraus sogar Marihuana-»Aktivisten« werden), konzentriert sich mittlerweile vordergründig auf ein anderes Thema: die Anerkennung dieser Substanz als wirksames therapeutisches Mittel, als Anästhetikum für Krebspatienten oder todkranke Menschen. Das liegt daran, dass dies der einzige Weg ist, den Einsatz von Marihuana in einer Welt zu rechtfertigen, in der das Sammeln von Erfahrungen für die meisten zum alles bestimmenden Lebensinhalt geworden ist: Dass man das Übel des körperlichen Schmerzes bekämpfen muss, leuchtet den Menschen ein; doch dass ein gesunder Mensch das Benebelt-Sein einem Zustand der Klarheit vorziehen könnte, klingt für die Mehrheit abstrus.
Sex bzw. all die Dinge, die wir anstellen, um Sex zuhaben, sind ebenfalls ein gutes Beispiel für die Ambivalenz vieler Methoden des Erfahrungssammelns. Einerseits gilt Sex in unserer Kultur als einer der Königswege zu reichen Erfahrungen; andererseits – und darüber wird selten gesprochen – hat Sex auch etwas Repetitives und damit Beruhigendes. Explizit wird letztere Alternative nur im Zusammenhang mit der Ehe thematisiert: Monogamie, die Wiederholung der sexuellen Erfahrung mit ein und demselben Partner, ein Akt der Liebe, der zugleich etwas Tröstendes hat. Der eheliche Liebesakt wiederholt sich, er verändert sich kaum, und er muss sich auch nur dann ändern, wenn die Partner sich dazu bewusst entscheiden. Diese Form der Monogamie ist nicht im eigentlichen Sinne anästhetisch, immerhin hat sie jedoch mit der Verweigerung neuer Erfahrungen zu tun. Abgesehen von dieser Ausnahme, lautet die kulturelle Vorgabe in unserer erfahrungshungrigen Welt allerdings, dass man nie zweimal nacheinander mit derselben Person ins Bett gehen und dass man möglichst bei jedem Geschlechtsakt etwas Neues ausprobieren soll. Entweder man findet immer wieder andere Partner (oder besser: Helfer), oder der jeweilige Partner verändert sich permanent in eine immer wieder neue Person, mit der man Erfahrungen teilen kann. Unsere Kultur ist auf allen Ebenen ihrer narrativen Struktur pornografisch geworden: Obwohl das menschliche Bewusstsein auf Wiederholung programmiert scheint und
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