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Bluescreen

Bluescreen

Titel: Bluescreen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Mark; Vennemann Greif
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längst bekannt. Ich kann mir noch so viele kürzere und längere Nachrichtenbeiträge ansehen – ich werde danach nichts wissen, was ich zuvor nicht wusste. Vielleicht empfinde ich dabei etwas, vielleicht auch nicht. Ein Gefühl, das sich dabei möglicherweise einstellt, ist das der Tugendhaftigkeit: Ich fühle mich als verantwortungsbewusster Bürger, weil ich mich über Dinge auf dem Laufenden halte, die ich am Ende doch nicht beeinflussen kann. Natürlich ist dieses Gefühl falsch, es ist sogar verabscheuungswürdig. Ich bin mir gar nicht mehr so sicher, was ich eigentlich fühle.
    Was empfindet man, wenn man zusieht, wie ein Mensch geköpft wird? Beim ersten Mal ist es schlimm. Und beim zweiten, fünften, zehnten oder hundertsten Mal? Verhält es sich ganz ähnlich wie bei persönlichen Erfahrungen auch: Es fühlt sich immer noch real an, wir können es beschreiben, zugleich wirkt es jedoch in gewisser Weise wie ein Traum. Manche beschreiben den Effekt der Wiederholung als »betäubend«. Ich würde eher sagen, dass sich ein Gefühl des Eingehüllt-Seins, ja sogar der Befriedigung darüber einstellt, dass man so etwas Schreckliches ertragen kann, ohne davon berührt zu sein oder es als peinigend zu empfinden. Wir haben es mit der paradoxen Erfahrung einer gelassenen Befriedigung zu tun, die uns befällt, obwohl wir Teil einer Welt sind, die wir zwar als reizarm und ruhig empfinden, in der ein anderer Mensch allerdings die schrecklichsten Dinge erdulden muss, dieman sich überhaupt vorstellen kann. Bei ihm löst dies Panik, Angst und Verzweiflung aus; wir betrachten die Situation von außen als das schlichte Ereignis des Todes.
    Die antiken Ästhetiken basierten auf der Erfahrung eines einzelnen Theaterstücks oder einer einzelnen Erzählung. Sie gingen zurück auf Aristoteles, der, ausgehend von der Wirkung einer einzelnen Tragödie, die Gefühle des Mitleids und der Angst beschrieb. In Athen wurden nicht während des ganzen Jahres Theaterstücke aufgeführt, dafür hatte man vielmehr bestimmte Tage reserviert, an denen dann gleich mehrere Tragödien präsentiert wurden. Wir begegnen Dramen, Erzählungen oder anderen fiktionalen Genres jedoch nicht länger ausschließlich an einem besonderen Festtag. Die klassischen Ästhetiken verlieren zunehmend ihre Aussagekraft, wenn wir nicht eine oder einige Folgen einer Arztserie im Jahr sehen, sondern im Lauf unseres Lebens fünftausend Folgen von einhundert Serien – und zwar parallel zu zehntausend anderen Erzählungen, in denen es um ähnlich starke Erfahrungen geht. Wir sehen die Bilder der Enthauptung nicht nur einmal, sondern einhundert Mal, gefolgt von zehntausend anderen Grausamkeiten, die dann ihrerseits wiederholt werden. Die Ebene der medial vermittelten Repräsentationen verwandelt sich in eine Art Trainingsgelände, auf dem wir uns darin üben, die starken Emotionen, die in den Geschichten verhandelt werden, eben nicht auf unsere eigene Erfahrung zu beziehen, damit wir nicht davon gelähmt werden oder die Nerven verlieren, während wir lernen, unsere eigenen Erfahrungen in die narrativen Strukturen und den Ton jener Erzählungen zu verpacken, welche die Medien uns präsentieren.
    Je mehr Lebensbereiche von den mediatisierten Erfahrungen kolonisiert werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass unsere persönlichen Erfahrungen von externen Dramen begleitet werden, egal, ob es sich dabei nun um »Fiction« handelt oder um »Nachrichten«. Die Bildschirme vermehren sich unablässig. In dem Restaurant, in dem ich zu Abend esse, laufen im Hintergrund auf stumm geschaltete Fernseher. (Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, als es das nur in Bars gab.) In den Wartezimmern der Krankenhäuser und Arztpraxen wird nicht einmal mehr der Ton abgestellt. Als ich einmal in einer Werkstatt in Florida einen platten Reifen wechseln ließ, konnte ich auf dem Bildschirm verfolgen, wie ein Mann aus diesem Bundesstaat von Air Marshalls erschossen wurde. Neben der Umkleidekabine bei Macy’s haben sie einen riesigen Flachbildschirm aufgestellt. Man findet sie auch in Fitnessstudios und in den Aufzügen der Bürohäuser. Flughafen-Terminals surren vor Fernsehnachrichten, die einen bis in die Flugzeuge hinein verfolgen, wo sie über den Bildschirm im Rücken des Vordersitzes laufen. Selbst in der U-Bahn soll es bald Fernseher geben. In den offiziellen Verlautbarungen dazu heißt es, man werde ausschließlich Nachrichten zeigen (da man schließlich etwas braucht, zwischen

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