Bluescreen
Internet. Die Medien, über die Erzählungen verbreitet werden, haben sich nicht gegenseitig verdrängt, sondern sie wurden immer mehr. Es ist nicht so, dass die Zeitung vom Film, der Film vom Radio, das Radio vom Fernsehen und das Fernsehen vom Internet abgelöst worden wäre. Sie existieren gleichzeitig, wir begegnen ihnen an immer mehr Orten, und es gibt immer größere Überschneidungen, was die Stimmung, die Charaktere oder die Inhalte betrifft. Alle Behauptungen, wonach die fiktionalen Gattungen dazu da sind, um uns zu erregen, abzulenken oder zu unterhalten, klingen heute so wenig überzeugend und relevant wie jene, nach denen die Nachrichten uns zu gebildeten, wohlinformierten und verantwortungsbewussten Menschen machen. Das hat damit zu tun, dass ihnen unausgesprochen die Vorstellung zugrunde liegt, dass wir uns zu bestimmten Anlässen in überschaubaren Dosen auf einzelne Sendungen konzentrieren. Doch im Zeitalter der totalen, der geschlossenen ästhetischen Umgebungen ist der Einzelfall praktisch bedeutungslos angesichts der Gesamtheit der Repräsentationen, mit denen wir konfrontiert sind. Ein einzelner Fernsehfilm mag tatsächlich aufregend sein, weil er besonders starke Erfahrungen transportiert (Liebe, Sex, Gewalt usw.); doch von der Summe aller Filme und Serien, die uns vom Fernsehen serviert werden, wird kaum jemand behaupten, sie sei sonderlich aufregend – im Gegenteil. Jeder TV -Junkie kann bestätigen, dass Fernsehen beruhigend wirkt, wenn man es über längere Strecken hinweg konsumiert.
Genau das ist das Paradoxe: Ab einer gewissen Dosis wirken medial vermittelte starke Erfahrungen beruhigend, man gerät dann in jenen Zustand des Losgelassen-Habens, den wir von Menschen kennen, die absichtlich auf dem Fernsehsofa vor sich hin vegetieren. Ganz entspannt und heiter sitzen sie da, während das Blut der Verbrecher an die Wände spritzt, während der Muskel in den Händen der Chirurgen pulsiert und die Geisel immer und immer wieder enthauptet wird – und zwar parallel auf mehreren konkurrierenden Nachrichtensendern, die nicht länger im Minuten-, sondern im Sekundentakt zu berichten versprechen, und doch nur alle die gleichen Bilder zeigen. Wer ein Leben lang fernsieht, wird zudem ein und dieselbe Geschichte immer wieder aufs Neue zu Gesicht bekommen, mit neuen Dialogen, anderen Schauspielern, in anderen Genres, fiktiv oder real. Die Suche nach irgendetwas Aufregendem wird da wohl kaum der Grund sein, weshalb man den Fernseher einschaltet.
Es scheint, als hätten die Nachrichten lange Zeit eine Ausnahme von der eben formulierten Regel dargestellt. Die meisten Menschen würden mir wohl zunächst einmal darin zustimmen, dass die großen Shows und Spielfilme, die zur besten Sendezeit ausgestrahlt werden, vor allem der Entspannung dienen, während die Nachrichten dem Ernst des Lebens und der Wahrheit verpflichtet sind. Aber hatten die Nachrichten – wenn man genauer darüber nachdenkt – nicht ebenfalls schon immer eine beruhigende Wirkung? Warum würde man sich sonst um zehn oder halb elf die Spätnachrichten ansehen, so wie andere Menschen eine Schlaftablette nehmen oder warme Milch schlürfen? Warum würde man sonst parallel zum Abendessen die Sechs-Uhr-Nachrichten verfolgen, die oft noch »ernster«, ja brutaler sind? Wir wissen doch, dass Hunger und Müdigkeit sofort nachlassen, wenn wir etwas wirklich Beunruhigendes erleben.
Im Zuge des Aufstiegs der 24-Stunden-Infokanäle wurden die Nachrichten zum eigentlichen Kern und zum repräsentativsten Beispiel für die totale Ästhetisierung unserer Umwelt. Diese Sender tun nicht einmal mehr so, als könnten wir sie einfach so ausschalten. Im Gegenteil: Sie vermitteln uns das Gefühl, dass in jedem Moment etwas passiert, dass es dort draußen Erfahrungen gibt, die zwar jemand anderem widerfahren, die wir aber unbedingt zur Kenntnis nehmen müssen. Das Fernsehen ist demnach nichts als ein transparentes Medium, das eine Verbindung zu Phänomenen herstellt, bei denen wir ohnehin am besten live dabei wären. Diese Lüge beruht auf bestimmten Vorstellungen der Tugendhaftigkeit, des Bürgersinns und der Verantwortung.
Ich sage, dass ich mir die Nachrichten ankucke, weil ichetwas »wissen« will. Dabei weiß ich eigentlich überhaupt nichts. Zumindest kann ich nichts tun. Ich weiß, dass im Irak ein Krieg stattfindet, aber das wusste ich ohnehin schon. Ich weiß, dass es in meinem Bundesstaat Feuersbrünste und Autounfälle gibt, doch auch das war mir
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