BLUFF!
Paartherapie, Jürg Willi, hat mir einmal berichtet, dass bei Ehekrisen selbst von hochgebildeten Paaren nicht etwa der vertiefte intellektuelle Austausch über den späten Goethe, sondern zum Beispiel das einträchtige Ablästern über das »unmögliche« Kleid der Nachbarin emotionale Nähe stiftet. Das gemeinsame, tief empfundene »Wie kann man sich bloß so anziehen!« schafft wieder die Gewissheit: »Wir beide gehören doch zusammen!«
Sicher, auch früher gab es unterschiedliche Milieus, ein adeliges, ein bürgerliches und ein Arbeitermilieu. Aber man wusste genau, dass man aus Zufall dem einen oder anderen Milieu angehörte. Auch heute sind viele Zufälle daran beteiligt, in welchem Milieu ich mich wohl fühle, doch das ist vielen Menschen nicht mehr bewusst. Das eigene Milieu mit seiner Ästhetik, mit seinen Überzeugungen und Meinungen wird für die eigentliche, für die richtige Welt gehalten. Alles andere hält man bestenfalls für absurd.
Wenn es dann einmal so weit gekommen ist, kann man aus dieser seiner Welt kaum mehr aussteigen, denn man merkt nicht einmal mehr, dass man gefangen ist in einer ganz bestimmten Weltsicht, die sich einem immer mehr aufgedrängt hat. »Ich gab Truman die Chance, ganz normal zu leben. Seahaven ist so, wie die Welt sein sollte«, sagt der Regisseur in der »Truman-Show«. Wenn alles gut läuft, wenn es keine Pannen gibt, wenn nichts mehr wirklich Anstoß erregt in der eigenen, scheinbar so normalen, milieumäßig geordneten Welt, dann haben wir letztlich aufgehört, wir selbst zu sein, dann sind wir bloß noch Funktionäre unseres Milieus. Und wenn dann eines Tages jemand käme und uns befreien wollte aus der gemütlich eingerichteten Zelle unserer Spießigkeiten, dann würden wir vielleicht blinzeln, wie die langweiligen letzten Menschen aus Friedrich Nietzsches »Zarathustra« oder die Bewohner von Platons Höhle, würden uns beharrlich weigern, unsere Zelle zu verlassen und nichts hören wollen von jener aufregenden anderen Welt, in der es Einzigartiges, Unvergleichliches, Erschütterndes wirklich gibt, Sinn und Unsinn, Gutes und Böses, Liebe oder Gott.
Deshalb sind die modernen Milieus keineswegs so harmlos, wie sie im ersten Moment erscheinen. Sie sind wie bunt bemalte Zuchthäuser, in denen den Insassen von der ungeschriebenen Hausordnung gesagt wird, was richtig und was falsch ist. Scheinbar haben sie Freigang, doch das Leben läuft so künstlich ab wie in einem Fernsehstudio und so verlogen wie in Trumans Seahaven, in dem alles richtig ist, aber nichts wirklich stimmt.
Auch wenn die Menschen in den unterschiedlichen Milieus unterschiedliche religiöse Vorlieben haben, wenn sie sich verlieben oder sich ermorden, in dieser sich machtvoll aufdrängenden Welt kann Gott in Wirklichkeit gar nicht vorkommen, denn er ist keine ästhetische Größe, höchstens kann man darüber reden, ob es mehr oder weniger angesagt ist, an Gott zu glauben. Über so etwas reden müde gewordene Theologen heute gerne und lösen damit doch nur die Theologie in Soziologie auf, denn so etwas hat natürlich mit Gott rein gar nichts mehr zu tun.
Wahre Liebe hatte schon früher gegenüber den Ressentiments des Milieus kaum eine Chance. Und auch heute heißt es im Brustton der Überzeugung bei milieuübergreifender Liebe: Wie kann eine solche Frau bloß einen solchen Mann heiraten! Denn es existieren Grenzkontrollen am Rande der Milieus, und Grenzüberschreitungen werden sanktioniert. Es gibt inzwischen Stadtviertel, da wird man im Supermarkt kritisch angeschaut, wenn man die »falschen« Sachen einkauft. Und über der spießigen Überlegung, ob sich irgendetwas nun einmal gehört oder nicht, vergisst man schließlich die wirklich wichtige Frage nach Gut und Böse. Der geschwätzige Mummenschanz all der Milieus bleibt am Ende banal, aber er drängt sich trotzdem machtvoll auf.
Dennoch, man kann dem widerstehen. Man kann sich bewusst weigern, sich durch das allgemeine unwidersprochene Raunen des eigenen Milieus gefügig machen zu lassen. Freilich ist das nicht leicht. Denn der Mensch ist bei allem Stolz auf seine Autonomie und Freiheit gewiss auch ein Gewohnheitstier und eine Rudelexistenz, die zum Mitläufertum neigt. Was alle tun, warum soll man das nicht tun?
Die Massenpsychologie hat untersucht, wie außerordentlich manipulierbar Menschen sind, wenn sie massenhaft auftreten. Diktatoren haben das hemmungslos ausgenutzt, und jeder wird wohl schon einmal das unheimliche Gefühl erlebt
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