BLUFF!
haben, in einer für oder gegen irgendetwas protestierenden Masse zu stehen und in diesem Moment genau zu spüren, dass Widerspruch gegen diese Masse gefährlich werden kann.
Ich erinnere mich mit Schrecken an eine »Bürgerversammlung«, in der die zuständige Ministerin Rede und Antwort stehen sollte zu einer an diesem Ort zu errichtenden Maßregelvollzugsklinik. Die Festhalle war mit wohl über tausend Bürgern überfüllt. Die Ministerin versuchte gerade ganz richtig zu erklären, dass es sich dabei um eine Klinik für psychisch kranke Straftäter handelte, die selbst unschuldige Opfer ihrer Krankheit seien und denen eine humane Gesellschaft angemessene Therapie schulde. Und da konnte man plötzlich die ganze irrationale Wut einer Masse erleben. Der Saal brodelte: »Schickt sie auf die Bohrinsel!«, »Stellt die Schweine an die Wand!«, brüllten ganz normale Bürger in Krawatte, Menschen, die morgens gewiss ganz harmlos beim Bäcker die Brötchen für die Familie holen und so etwas mit Sicherheit alleine so nie sagen, ja vielleicht noch nicht einmal denken würden.
Massen geben dem Einzelnen das manchmal fast euphorische Gefühl, im Einverständnis mit der Welt zu sein. Und der aus traditionellen Bindungen herausgefallene Zeitgenosse ist besonders anfällig für solche berauschenden Erlebnisse.
Doch veritable Massenerlebnisse gibt es nicht am laufenden Band, und so bleibt für den Massenmenschen vor allem der Alltag ein Problem. Die Psychologie weiß, dass man Gewohnheiten braucht, um alltäglich einigermaßen funktionieren zu können. Wenn man jedesmal neu entscheiden müsste, was man jetzt gleich tun oder sagen wird, wäre man lebensuntüchtig. So antworte ich mehr oder weniger automatisch mit »Mahlzeit«, wenn jemand mich mit »Mahlzeit« grüßt, obwohl ich diesen Gruß schon immer für bescheuert gehalten habe. »Gesegnete Mahlzeit« würde ja noch einen gewissen Sinn machen. Und man entscheidet sich auch nicht immer frei, wie man nun die Hände in die Hosentaschen steckt – außer in der Pubertät, wo man die Hände genau so in die Taschen stecken muss, dass es ganz besonders cool aussieht. Eine ziemlich anstrengende Zeit, wie man weiß.
Der Mensch braucht also bestimmte Üblichkeiten und Gewohnheiten, um genug Zeit und Kraft für die wichtigen Entscheidungen des Lebens zu haben. Und da Traditionen nicht mehr zur Verfügung stehen und man sich befreit hat von den religiösen Institutionen, die Halt gaben und Orientierung, die Raum und Zeit ordneten und jedem seinen Platz zuwiesen in Gottes weiter Welt, ist man gerade jetzt besonders verführbar geworden durch scheinbare Sicherheiten und eine beruhigend übersichtliche kleine Welt, in der man sich wohl fühlt, weil man übereinstimmt. Man hält im Strom einer immer unverständlicheren großen Welt umso krampfhafter und heftiger an dieser kleinen Welt fest, die mit Klauen und Krallen als die einzig wahre Welt verteidigt wird. Je größer also und unheimlicher die Globalisierung, desto heimeliger und wehrhafter das kleine Milieu, und das kann dann auch der örtliche Alpenverein, die Schalke-Fangemeinschaft oder der Kegelclub sein. So wirken die Milieus wie Stammtische, für deren Meinungen niemand die Verantwortung trägt, die aber alle Teilnehmer mit harschen Urteilen über Gott und die Welt versorgen.
Da zwar viele von diesen Milieus profitieren, aber niemand sie alleine steuert, sind sie inhaltlich letztlich leer. Und wenn der Milieumensch auf den Gedanken käme, die tiefsten Grundüberzeugungen seines Milieus aufzudecken, dann fände er im Kern keinerlei Substanz, sondern – nichts. Und so bewirken die neuen Milieus weit mehr als die Zusammenführung von Menschen mit dem gleichen Geschmack. Mit all ihren künstlichen spießigen Kulissen fälschen sie die Welt und verdecken dadurch die eigentliche Welt. Sie machen aus ihren fügsamen Mitgliedern Mitläufer des Nichts und betrügen sie auf diese Weise um das wahre Leben. So gewöhnen sie uns schon einmal ganz harmlos daran, uns in manipulierten künstlichen Welten, von denen es, wie wir noch sehen werden, zurzeit eine ganze Menge gibt, ganz selbstverständlich wohl zu fühlen.
Die These dieses Buches, dass wir in einer gefälschten Welt leben, hat in den ominösen Sinusmilieus eine erste Unterstützung gefunden. Früher waren wir in unterschiedliche Stände, Klassen oder Konfessionen gespalten. Dagegen konnte man kämpfen und dagegen hat man gekämpft. Heute ist das alles scheinbar
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