BLUFF!
überwunden, wir sind angeblich alle gleich. Aber die Milieus, die wir uns geschaffen haben und die sich uns inzwischen mit einer gewissen Eigendynamik aufdrängen, trennen uns unerbittlicher als früher, und man kann dagegen noch nicht einmal ankämpfen, da die Grenzen unsichtbar sind. Truman rammt am Ende mit seinem Schiff die Pappmascheewand seiner Kunstwelt, und so gelingt es ihm, den Ausgang ins eigentliche Leben zu finden. Das fällt Sinusmilieuinsassen ungleich schwerer. Denn da ist kein klar definierbarer Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit einer Rudelexistenz. Man muss sich selber herausziehen. Kunst kann da helfen, Philosophie und womöglich Religion.
Zweifellos: Kein Mensch kann völlig aussteigen aus der Welt der Milieus. Das wäre eine Illusion. Aber wir können es lernen, unsere eigenen Gewohnheiten humorvoll in Frage zu stellen, das Ganze als großes Spiel zu verstehen, dem wir nicht hilflos ausgeliefert sind, sondern das wir einfach zeitweilig unterbrechen und sogar, wie es starke Menschen bewiesen haben, beenden können. Es sind schließlich Momente tiefer Humanität, wenn eine gutbürgerliche Lehrerin gutbürgerlicher Schülerinnen wie Agnes Gonxa Bojaxhiu plötzlich die Berufung spürt, den Ärmsten der Armen zu dienen, alle Brücken zu ihrer früheren Welt abbricht und in den dreckigen Slums von Kalkutta als Mutter Teresa leidenden Menschen existenziell begegnet. Doch auch dass Politiker der Grünen nach Eintritt in die Regierung plötzlich mit Krawatte und dem kleinen Schwarzen zu sehen waren, war nicht ein Abfall vom grünen Glauben, sondern der sympathische Beweis, dass diese Leute die nach ihrer Auffassung für die Menschen wichtige politische Sache höher werteten als die ungeschriebenen Dogmen ihres Milieus. Es bleibt also der Trost, dass niemand Gefangener seines Milieus bleiben muss.
Dass Milieuwechsel auch ganz, wie soll ich sagen, fruchtbare Folgen haben können, war am Ende des Zweiten Weltkriegs zu beobachten. Als amerikanische GI s damals zu Millionen nach Frankreich kamen, um die Grande Nation zu befreien, trafen sie auch auf fröhliche Französinnen, die sie so begrüßten, wie das üblich war – in Frankreich üblich war. Sie küssten die basserstaunten amerikanischen Jungmänner nämlich auf beide Wangen. Das war in Frankreich kein besonderes Zeichen von Sympathie, sondern ganz normal. Für die verblüfften Amerikaner war das aber eindeutig eine Grenzüberschreitung, der Beweis besonderer Zuneigung, ja geradezu eine Intimität. Da die Französinnen aber darüber hinaus gewöhnlich recht attraktiv waren, ließen sich die Amerikaner nicht lange bitten und küssten leidenschaftlich zurück, was wiederum die Französinnen irritierte und interessierte. Und so entstand die amüsante Situation, dass jede Seite von der jeweils anderen Seite einen völlig falschen Eindruck bekam und sie für ungewöhnlich draufgängerisch hielt. Auf diese Weise hatte die große amerikanisch-französische Freundschaft am Ende wegen eines kleinen kulturellen Missverständnisses ausgesprochen fruchtbare kleine Konsequenzen.
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II . Das Welttheater
E s gibt also Hoffnung auf einen Ausweg aus den Befangenheiten des Milieus, aus den Oberflächlichkeiten des Geschmackes, aus den Gewohnheiten dessen, was wir bloß immer wieder tun, weil wir meinen, dass sich das so gehört. Wenn sich die Fälschung der Welt nur auf die Milieus bezöge, in denen wir unvermeidlich leben, so wäre ein Tapetenwechsel die beste Methode, diesen permanenten Täuschungen zu entgehen. Wir würden, wie der Psychotherapeut Paul Watzlawick sagen würde, einen Unterschied machen, der einen Unterschied macht. Und dann würden wir uns einfach die Freiheit nehmen, zur wahren Welt vorzudringen, Liebe zu erleben, Gott zu suchen und das Böse zu fürchten. Doch so einfach ist das leider nicht. Denn nicht nur die Milieus, in denen wir leben, fälschen die Welt. Die Gesellschaft vermittelt uns darüber hinaus ganz viele Welten, die psychologisch einen erheblichen Einfluss ausüben und die Wahrnehmung verzerren, die Gleichgültiges oder gar Falsches groß herausstellen und Wahres und Wichtiges verstecken. Um diese Welten soll es jetzt gehen, denn sie sind schließlich die aufwendigen Kulissen, hinter denen sich die Geheimnisse des eigentlichen Lebens verbergen. Und erst dann, wenn wir die Bühnenmaschinerien und all die hohlen Attrappen inspiziert haben, werden wir versuchen, beherzt hinter dieses Welttheater zu blicken.
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