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BLUFF!

BLUFF!

Titel: BLUFF! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Lütz
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kopfloser Flucht vor dem Tod. Während sich die lebenslustige Barockzeit dem Tod noch tapfer und gottesfürchtig stellte und im Bewusstsein der Unwiederholbarkeit jedes Moments ihre rauschenden Feste feierte, begann die Flucht schon leise zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, als auf den romantisch gestylten Friedhöfen plötzlich nur noch geschlafen wurde: Kein Knochenmann mehr mit Stundenglas, sondern unter schattigen Bäumen sanft schlafende wunderschöne Frauen und Männer. Der Ruf einer Nachtigall, und alle würden sich zweifellos zu einem anmutigen traurig-schönen Tanz erheben.
    Inzwischen verschwindet der eigentliche Tod hinter einer veritablen Pornographie des Todes. Hunderte Tote in Actionfilmen oder Computerspielen haben mit dem realen Tod, den Sie sterben werden, liebe Leserinnen und Leser, so wenig zu tun, wie ein Pornofilm mit Liebe. Das Ende sind dann anonyme Bestattungen nur noch knapp vor dem bloßen Verscharren und der optische Kannibalismus der »Körperwelten«-Ausstellungen eines geltungs- und habsüchtigen Gunther von Hagens, der einer konsumfreudigen gruselnd-voyeuristischen Öffentlichkeit ein lustvolles Grauen bereitet, indem er ihr menschliche Leichen unter dem Vorwand der Kunst zum gefälligen Augenschmaus serviert.
    Auf diese Weise verschwindet der wirkliche, der existenzielle Tod. In der gefälschten Welt, in der wir leben, kommt er gar nicht mehr vor:
    Die Wissenschaft ist ein unendliches Projekt, das bloß die papierne Unsterblichkeit des ruhmvollen Nobelpreises kennt und deren Protagonisten, die sterblichen Wissenschaftler, den Tod überwinden, wenn ihr richtungsweisender Artikel am Tag nach ihrem Tod in der Zeitschrift »Science« erscheint. Die Fachwelt stirbt nicht.
    Auch die Psychologie kennt den Tod nicht wirklich. Sie versteht ihre Einsichten, selbst solche über Sterben und Tod, je psychoanalytischer, desto mehr, als ewige Offenbarungen von zeitloser Gültigkeit.
    Weit mehr als die Hälfte der Menschen, denen wir in Film und Fernsehen begegnen, sind eigentlich tot, aber das interessiert die Medien nicht, denn der wirkliche Tod ist ihnen unbekannt. Der Auferstehungsritus des Fernsehens besteht darin, am Tage des Todes eines Schauspielers noch einmal einen Film zu zeigen, in dem derselbe Schauspieler, der in Wirklichkeit gerade in Leichenstarre übergeht, putzmunter ist. Nichts kann der Tod diesem unsterblichen Film anhaben.
    Dass die Finanzwelt selbst im Börsencrash nicht stirbt, zeigt die quicklebendige Aktivität, die sich nach dem tragischen Suizid eines Bankrotteurs auf dem Parkett entfaltet. Auch der Börsenbericht ist unsterblich.
    Die Gesundheitsreligion schließlich ist eine einzige Feindseligkeit gegen Freund Hein. Da ist der Tod im besten Fall eine bedauerliche Panne, im schlechtesten Fall der Grund für eine Klage auf Schadensersatz. Regelmäßig berichten seriöse Zeitungen in seriösen Artikeln, wie viele Deutsche in einem Jahr am Rauchen gestorben sind, die sonst offenbar nicht gestorben wären. Das Welttheater, das uns umgibt, kennt phantastische Masken, bloß Gevatter Tod kommt nicht vor. Christen dagegen behaupten, das unendliche Leben sei eine Illusion, das ewige Leben über den Tod hinaus dagegen sprenge die Zeit. Doch das weiß keiner mehr.
    Und so wirken all diese lächerlich gefälschten Unsterblichkeiten der machtvollen gefälschten Welten, in denen wir unvermeidlich leben, als hilfsbereite Fluchthelfer auf der Flucht vor dem Tod, aber damit zugleich als Hindernisse auf dem Weg zu uns selbst. Wer da selbst ganz ernsthaft stirbt, muss sich für einen schrillen Misston in dem bombastischen Welttheater halten, das ihn umgibt, und er wird zusehen, dass er sich möglichst unauffällig verkrümelt. Doch das ist fatal. Nicht nur, dass die eigene unendlich wertvolle Existenz auf diese Weise bloß als kleines Körnchen im gewaltigen Weltall, als lächerliches Psychophänomen, als winziger Medien-Welt-Bewohner, als mickriger Kunde oder als hilfloser Patient wahrgenommen wird, obwohl doch ein Lächeln von George Clooney existenziell kein bisschen weniger wertvoll ist als Ihr Lächeln, lieber Leser. Vor allem gilt: Wer den Tod verdrängt, verpasst das Leben, das eigentliche, das existenzielle Leben. Und so leisten all die gefälschten Welten gemeinsam ihren Beitrag zum skandalösen Vergehen der Geiselnahme der Zeit, unserer Lebenszeit. Die allgemein herrschende Videomentalität, die so tut, als könne man alles, wirklich alles, auf Video aufzeichnen und wiederholen,

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