BLUFF!
Entschuldigung.
Nicht nur die Vergewaltigung der Geschichte durch totalitäre Diktaturen, nicht bloß ihre Verklumpung in sozialpsychologisch verständliche Klischees fälscht die Welt, sondern auch die seriöse wissenschaftliche Geschichtsforschung präsentiert eine Welt, in der Wesentliches fehlt. Wenn auch in dieser Welt Liebe, der Sinn des Lebens und Moralität prinzipiell nicht wirklich vorkommen, dann verstärkt der historische Blick auf die Welt die Illusion einer existenziellen Leere, die in Wahrheit aber gar nicht vorliegt. Denn auch der Historiker ist ein Mensch, der liebt, moralisch handelt und für den die Frage nach dem Sinn des Lebens natürlich erheblich wichtiger ist als das exakte Datum der Schlacht bei Austerlitz.
So ist auch die Welt der Geschichte eine künstliche Welt, und der Historiker ist wie der Anatom, der die Leiche eines Menschen kunstfertig seziert, der alle Zusammenhänge von Knochen, Muskeln und anderen Geweben genau untersucht, dem aber das Entscheidende, das wirkliche Leben dieses einmaligen Menschen, nicht mehr zugänglich ist.
Die Fälschungen der Geschichte, von denen die Rede war, führen aber noch zu einem viel beunruhigenderen Problem. Jeder Mensch ist der, der er ist, durch seine eigene Geschichte. Von den Eltern oder anderen wichtigen Menschen hat er als Kind Liebe, Moralität und eine Ahnung vom Sinn des Lebens mitbekommen. Selbst wenn er später andere Wege gegangen ist, das, was ihm damals mitgegeben worden ist, ist nicht bloß psychologisch, sondern vor allem existenziell prägend für das ganze Leben. Selbst die absurdesten Karikaturen des Weihnachtsfestes leben von jenem Heimatgefühl, von dem es am Ende von Ernst Blochs »Prinzip Hoffnung« heißt: »… so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.« Wenn Menschen schlagartig ihr gesamtes Gedächtnis verlieren, ist das deswegen zutiefst verstörend. Wer überhaupt nicht mehr weiß, woher er kommt, kann auch nicht mehr wissen, wohin er will.
Das gilt aber auch für Gesellschaften. In ihnen ist trotz aller Irrungen und Wirrungen, trotz aller notwendigen Weiterentwicklungen und Aufklärungen ein jahrtausendealtes Wissen über das, was im Leben des Menschen wirklich wichtig ist, aufgehoben. Es ist ein Zeichen für die Gesundheit einer Gesellschaft, wenn ihr diese Quellen zugänglich sind. Gesellschaften, die sich neu ausrichten, tun das nicht selten unter Rückgriff auf ihre historischen Erinnerungsbestände. Nach dem Ende der autokratischen Diktaturen in Nordafrika besinnt man sich in den Ländern des arabischen Frühlings auf den Islam, um irgendwie aus ihm einen aussichtsreichen politischen Aufbruch zustande zu bringen, nach dem Ende der Militärdiktaturen Lateinamerikas besinnt man sich auf die indianischen Ursprünge, um die Eigenständigkeit der neuen politischen Bewegungen zu sichern, und auch in China lebten beim Neuaufbruch die alten konfuzianischen Traditionen wieder auf.
Doch in Europa ist das anders. Die drastischen Fälschungen der Geschichte, von denen die Rede war, haben die religiösen Wurzeln gekappt, aus denen Europa erwachsen ist. Wer einmal verfolgt hat, wie viel Unsinn allein in einem nur halbjährigen Wahlkampf über eine Partei von ihren Gegnern verbreitet wird, den wird es nicht weiter wundern, dass jahrhundertelange Kampagnen gegen Christentum und Kirche, gegen Katholiken und Protestanten ganze Arbeit geleistet haben. Daher ist das Christentum in Europa keine ernsthafte Option. Und so haben die Europäer auf der Suche nach dem Sinn des Lebens die Orientierung verloren. Als spirituelle Geisterfahrer ohne Woher und Wohin sind sie zutiefst verunsichert und anfällig für jeden Hokuspokus. Sie basteln sich eine höchstpersönliche Patchwork-Religion zusammen mit ostasiatischen Schnittblumen und dem, was sonst noch auf dem Markt ist. Das ist eine persönliche Katastrophe, weil so etwas in existenziellen Krisen im Ernst niemanden wirklich trägt. Es ist aber auch ein gesellschaftliches Problem. Gregor Gysi hat neulich bekannt, er sei Atheist, aber er habe Angst vor einer gottlosen Gesellschaft, weil der die Solidarität abhanden kommen könne. Sozialismus sei schließlich nichts anderes als säkularisiertes Christentum.
Die tiefe existenzielle Verunsicherung durch die Fälschung der Geschichte macht viele Menschen heimatlos und auf diese Weise zu umso leichteren Opfern all der anderen Fälschungen der Welt, von denen oben die Rede war. Denn
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