Blut der Wölfin
Welt losgelassen – zum Wahnsinn getrieben nach seiner langen Gefangenschaft und getrieben von dem Bedürfnis, seine unheilvollen Pflichten zu erfüllen.« Anita grinste; ihre Augen funkelten. »Hört sich ein bisschen wie eine Lagerfeuergeschichte an, stimmt’s? Etwas, mit dem unsere Kinder ihren paranormalen Freunden Angst machen können.«
»Tut es auch. Aber ich nehme an, es steckt doch irgendwo ein Körnchen Wahrheit darin …«
»Aber der Teil, in dem die Magier die Welt vor dem Bösen retten, ist es wohl eher nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht gerade nett von mir, aber ich glaube, sie hätten lieber verhandelt, um ihren Teil von der dämonischen Gabe abzubekommen.«
Wir redeten noch ein paar Minuten lang über die Geschichte, dann erkundigte Anita sich nach unseren Fortschritten, und ich brachte sie auf den neuesten Stand. Als ich ihr von Hull erzählte, wurden ihre Augen weit.
»Er ist durch das Portal gekommen?«
»Na ja, das sagt er jedenfalls. Aber er ist kein Zombie, also bezweifle ich …«
»Oh, aber das beweist gar nichts. Nur diejenigen, die zuvor geopfert wurden, kommen als Zombies heraus. Wenn sie am Leben waren, als sie reingeraten sind, werden sie als Lebende wieder herauskommen.«
»Wie in der Geschichte«, sagte ich. »Wenn Jack the Ripper in einem Dimensionsportal eingeschlossen wurde …«
Clay schnaubte. »Dieser Typ ist aber nicht Jack the Ripper.«
»Und woher willst du das wissen?«
»Es ist wirklich bloß eine Geschichte«, sagte Anita. »Im besten Fall könnte sie, wie du selbst gesagt hast, ein paar Körnchen einer verzerrten Wahrheit enthalten, wie das bei solchen überlieferten Legenden oft der Fall ist. Aber trotzdem, wenn dieser Mann aus dem viktorianischen London stammt …«
»Behauptet er«, sagte Clay.
»Aber wenn er es tut, würde ich mich gern mit ihm unterhalten. Der Reichtum an historischer Information in Verbindung mit diesen speziellen Umständen … es wäre paranormale Überlieferung aus erster Hand.«
Mein Handy klingelte.
»Zoe«, sagte ich. »Mit etwas Glück hat sie Tolliver gefunden.«
Sie hatte ihn gefunden. »Er ist in der Trinity Church. Seid ihr noch drüben am Yonge? Ich kann vorbeikommen und euch abholen.«
Ich erzählte ihr, wo wir waren. Ein Moment des Schweigens. Dann: »Na, das wäre ein ganz hübscher Umweg für mich. Wie wär’s, wenn wir uns einfach dort treffen?«
Dem Schild an der Außenmauer zufolge war die Church of the Holy Trinity im Jahre 1847 errichtet worden, in einer Gegend, die damals außerhalb von Toronto gelegen hatte. Wenn man sich umsah, war es kaum vorstellbar, dass dies jemals der Stadtrand gewesen war. Die kleine Kirche stand unmittelbar neben einem gigantischen Einkaufszentrum, dem Eaton Centre, womit sie sich heute mitten in der Innenstadt befand. Und als wäre es nicht ironisch genug gewesen, ein spirituelles Glaubenszentrum neben einem Tempel der Konsumgläubigkeit zu finden, diente die Kirche außerdem als Anlaufstelle für Wohnsitzlose.
Während wir auf Zoe warteten, las ich die Gedächtnistafel für verstorbene Wohnsitzlose, die neben der Tür angebracht war. Die Liste war voller John Does und Jane Does – Leute, deren wirkliche Namen nicht hatten ermittelt werden können, so dass sie nicht einmal auf ihrer eigenen Gedächtnistafel auftauchten.
Clay sah über meine Schulter, als Zoe sich näherte. Sie verspannte sich sichtlich; ihr Gesicht wurde starr.
»Was?«, fragte er.
»Na los. Sag’s schon.«
»Sag was?«
»Frag mich, wie viele von denen da« – eine Handbewegung zu der Liste hin – »auf mein Konto gehen.«
Clay warf mir einen »Hä?«-Blick zu, sagte aber nur: »Ich wollte eigentlich so was wie ›Hallo‹ sagen. Oder ›Wird langsam Zeit, dass du auftauchst‹.«
Zoe nickte mit offenkundiger Erleichterung. Ein paar von den Namen auf diesen Listen gehörten zweifellos zu ihren Opfern. Ein Vampir tötet nicht bei jeder Nahrungsaufnahme, muss aber ein Mal im Jahr ein Leben nehmen, um die eigene Unsterblichkeit zu erhalten. Die meisten Vampire suchen sich Leute aus wie diejenigen auf dieser Liste. Sich ein Opfer von der Straße zu suchen hält die weiteren Auswirkungen gering; es beeinträchtigt weniger Leben, als wenn man etwa eine vierfache Mutter aus einer gehobenen Wohngegend umbringt, und erregt weniger öffentliches Aufsehen. Trotzdem, so viel in einem Leben auch schiefgegangen sein mag, es ist immer noch ein Leben. Ich nehme an, auch Vampiren ist das bewusst,
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