Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
Jahreszeit in unserer Gegend. Im Juli oder August will man nichts wie weg hier.«
»Ich habe früher in Charleston gewohnt.«
»Dann kennen Sie das ja. Wenn ich im Sommer Urlaub nehmen könnte, würde ich dorthin fahren, wo Sie gerade herkommen. Sicher ist es in Boston zehn Grad kühler«, fügt er hinzu. Es gefällt mir gar nicht, dass er weiß, von wo aus ich heute Morgen losgeflogen bin.
Allerdings liegt dieser Schluss, wie ich mir vor Augen halte, ziemlich nah. Jeder, der möchte, kann herausfinden, dass ich in Cambridge arbeite, und Logan, der nächste Flughafen, gehört nun einmal zu Boston. Officer Macon schließt ein Tor auf und führt mich einen Weg entlang, der auf beiden Seiten von hohen, mit Natodraht gekrönten Zäunen gesäumt wird. Haus Bravo unterscheidet sich äußerlich nicht von den anderen Unterkünften, doch als die Eingangstür mit einem Klicken aufgeht und wir eintreten, spüre ich, dass hier Elend und Beklemmung herrschen. Die grauen Betonsteine, der grau lackierte Boden und der dicke grüne Stahl scheinen diese Atmosphäre buchstäblich auszudünsten. Der mit einem Einwegspiegel verglaste Kontrollraum befindet sich gleich gegenüber dem Eingang. Außerdem gibt es hier noch einen Wäscheraum, eine Eismaschine, eine Küche und einen Kummerkasten.
Ich frage mich, ob Jaime Berger bei ihrem Besuch wirklich hier war. Worüber hat sie wohl mit Lola Daggette gesprochen? Hatte es etwas damit zu tun, dass Kathleen Lawler in Einzelhaft verlegt wurde? Und besteht eine Verbindung zu mir? Außerdem passt es gar nicht zu Jaime, irgendwohin zu gehen und jemanden absichtlich in Schwierigkeiten zu bringen. Es ist unvorstellbar für mich, dass sie ein Gerücht über Kathleen Lawlers Vergangenheit in Umlauf gebracht haben könnte, das zu Feindseligkeiten seitens der anderen Gefangenen geführt hat. Jaime ist intelligent, taktisch klug und ausgesprochen vorsichtig. Manchmal übertreibt sie es sogar damit. Zumindest war das früher so. Da ich sie seit einem halben Jahr nicht gesehen habe, habe ich keine Ahnung, was sich in ihrem Leben tut. Meine Nichte Lucy spricht nicht über sie und das, was geschehen ist, und ich bohre nicht nach.
Officer Macon schließt einen kleinen Raum mit großen Fenstern aus bruchsicherem Glas zu beiden Seiten der Tür auf. Er ist mit einem weißen Resopaltisch und zwei blauen Plastikstühlen möbliert.
»Warten Sie hier. Ich hole Miss Lawler«, sagt er. »Aber ich muss Sie warnen. Sie ist sehr redselig.«
»Ich bin eine ziemlich gute Zuhörerin.«
»Die Gefangenen lieben Aufmerksamkeit.«
»Hat sie denn oft Besuch?«
»Das würde ihr so gefallen. Publikum rund um die Uhr. Doch das ist bei fast allen so.« Er hat meine Frage nicht beantwortet.
»Spielt es eine Rolle, wo ich mich hinsetze?«
»Nein, Ma’am«, erwidert er.
Wenn es in einem Vernehmungszimmer eine versteckte Kamera gibt, hängt sie normalerweise der Zielperson, also in diesem Fall der Gefangenen, nicht mir, diagonal gegenüber. Hier gibt es keine Kamera, da bin ich ziemlich sicher. Ich setze mich und halte Ausschau nach Überwachungsmikrofonen. Als ich die Decke direkt über dem Tisch betrachte, entdecke ich die Metalldüse der Sprinkleranlage und daneben ein winziges Loch mit einer weißen Fassung. Mein Gespräch mit Kathleen Lawler wird also aufgenommen werden. Tara Grimm und vielleicht auch noch andere werden mich belauschen.
4
Seit Kathleen Lawler in Einzelhaft verlegt wurde, ist sie dreiundzwanzig Stunden am Tag in eine Zelle von der Größe eines Werkzeugschuppens eingesperrt. Die mit Maschendraht gesicherten Fenster bieten Aussicht auf Gras und einen Stahlzaun. Die Picknicktische aus Beton und die Blumenbeete, die sie mir in ihren E-Mails beschrieben hat, kann sie nicht mehr sehen. Auch auf ihre Mitgefangenen und die geretteten Hunde kann sie nur noch ab und zu einen Blick erhaschen.
Während der einen Stunde Hofgang schreitet sie »langweilige, gleichförmige Vierecke« in einem kleinen, vergitterten Bereich ab. Dabei wird sie von einem Aufseher bewacht, der auf einem Stuhl neben einer leuchtend gelben Kühlbox mit vierzig Liter Fassungsvermögen sitzt. Wenn Kathleen einen Schluck Wasser möchte, wird ihr ein kleiner Pappbecher durch die Gitterstäbe gereicht. Sie sagt, sie habe vergessen, wie es ist, von einem anderen Menschen berührt zu werden, Finger auf ihrer Haut oder eine Umarmung zu spüren. Das äußert sie so theatralisch, als hätte sie den Großteil ihres Lebens in Haus Bravo verbracht,
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