Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
schwer im Argen liegt. Ich bin in eine Falle gelockt oder reingelegt worden. Offensichtlich bin ich hier nicht willkommen. Ich werde ihm mitteilen, dass jetzt Schluss ist mit den Glacéhandschuhen. Jetzt greife ich mit bloßen Händen nach der Wahrheit.
»Stellen Sie sich vor, wie es ist, wenn man nicht mehr weiß, wie man eigentlich aussieht«, sagt die Frau, die mir in Fußeisen gegenübersitzt. Ihr Äußeres macht ihr mehr zu schaffen als der Tod von Jack Fielding. Oder der des Jungen, den sie in betrunkenem Zustand überfahren hat.
»Mir standen so viele Möglichkeiten offen. Ich habe eine wirkliche Chance verpasst, berühmt zu werden«, spricht sie weiter. »Als Schauspielerin, Model oder Dichterin. Außerdem habe ich eine verdammt gute Stimme. Vielleicht hätte ich meine eigenen Texte schreiben und eine zweite Kelly Clarkson werden können. Natürlich gab es zu meiner Zeit noch keine Casting- Shows. Als ich jünger war, war ich eher der Typ Katy Perry, wenn sie blond wäre. Wahrscheinlich könnte ich noch immer eine bekannte Dichterin werden. Allerdings sind Ruhm und Erfolg viel leichter zu erreichen, wenn man attraktiv ist, und das war ich. Damals blieben Autofahrer meinetwegen stehen. Die Leute gafften. So wie ich in meiner Jugend aussah, hätte ich haben können, was ich wollte.«
Nach all den Jahren, in denen sie nicht an die Sonne gekommen ist, ist Kathleen Lawler unnatürlich blass. Ihr Körper ist schwammig und aus dem Leim gegangen. Dabei ist sie nicht übergewichtig, sondern nur schlaff und teigig, da sie ihr Leben in erzwungener Bewegungslosigkeit und sitzend verbringt. Ihre Brüste hängen, ihre Oberschenkel ruhen breit auf dem Plastikstuhl. Die früher so aufsehenerregende Figur ist inzwischen ebenso formlos wie die weiße Gefängniskleidung, die sie und die anderen Insassinnen in Einzelhaft tragen müssen. Es ist, als sei sie körperlich kein Mensch mehr und habe sich zu einer primitiven Lebensform zurückentwickelt wie zum Beispiel einem Plattwurm, höhnt sie in ihrem stark ausgeprägten, gedehnten Georgia-Akzent, der mich an weiche Karamellbonbons denken lässt.
»Wahrscheinlich schauen Sie mich an und fragen sich, wovon ich rede«, fährt sie fort, während ich mich an die Fotos von ihr erinnere. Auch an die Polizeifotos nach ihrer Verhaftung 1978, als sie und Jack beim Sex ertappt wurden.
»Als ich ihn in diesem Jugendheim am Stadtrand von Atlanta kennengelernt habe«, spricht sie weiter, »nun, da habe ich wirklich etwas hergemacht. Langes, blondes, seidenweiches Haar, großer Busen, ein Hintern wie ein Pfirsich aus Georgia und endlos lange Beine. Dazu riesige goldbraune Augen, die Jack immer meine Tigeraugen nannte. Komisch, wie manche Sachen sich vererben, als würden sie im Mutterleib oder vielleicht schon bei der Zeugung programmiert, sodass man ihnen nicht entrinnen kann. Das Rouletterad dreht sich, die eigene Nummer ist dran, und so wird man dann, ganz gleich, ob man sich Mühe gibt oder gar nichts tut. Man ist, was man ist. Ereignisse oder andere Menschen können den Engel oder den Teufel, den Gewinner oder den Verlierer, der sich in einem verbirgt, nur verstärken. Ob man einen neuen Rekord im Baseball aufstellt oder vergewaltigt wird, hängt nur davon ab, wie das Rad sich dreht. Es ist vorherbestimmt, und man kann es vergessen, etwas dagegen tun zu wollen. Sie sind doch Wissenschaftlerin. Über Genetik brauche ich Ihnen deshalb ja nichts zu erzählen. Sicher stimmen Sie mir zu, dass die Natur unveränderbar ist.«
»Die Erfahrungen eines Menschen haben ebenfalls starke Auswirkungen«, wende ich ein.
»Das erkennt man auch bei Hunden«, fährt Kathleen fort. Anscheinend interessiert sie sich nicht für meine Meinung, so lange sie nicht für mich mitdenken kann. »Ein Windhund, der misshandelt wurde, wird immer auf gewisse Dinge reagieren und ist oft überempfindlich. Aber er ist entweder ein guter oder ein schlechter Hund. Entweder war er auf der Rennbahn ein Sieger oder ein Verlierer. Entweder kann man ihm etwas beibringen oder eben nicht. Ich kann nur aus ihm herausholen, was schon da ist, ihn ermutigen und ihn formen. Doch es ist unmöglich, ihn in etwas zu verwandeln, was nicht in ihm angelegt ist.«
Dann erzählt sie mir, sie und Jack seien Schicksalsgenossen gewesen. Sie habe ihm genau das Gleiche angetan, was ihr angetan worden sei, obwohl sie es damals noch nicht erkannt habe. Selbst als Sozialarbeiterin und Therapeutin sei sie einfach nicht in der Lage gewesen, es zu
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